Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Nummer 19 liegt gegenüber von 95

Auf der autofreien Insel Baltrum geht alles zu Fuß, per Rad oder mit dem Fuhrwerk – selbst die Briefzuste­llung. Doch neben Muskelkraf­t braucht der Inselpostb­ote vor allem Köpfchen. Denn mit den Adressen ist es so eine Sache.

- VON LENNART STOCK

(dpa) „Moin! Möchtest du gerade Post für dich mitnehmen?“Baltrums Inselpostb­ote Andre Krandick streckt unvermitte­lt einen Brief in Richtung eines älteren Herrn mit Käppi, der gerade sein Damenrad an dem Postboten vorbeischi­ebt. Der Insulaner nimmt dankend an und trottet mit seinem Rad davon. Auf der gerade mal 500 Einwohner zählenden ostfriesis­chen Insel kenne jeder jeden, erklärt Krandick. Das erleichter­e natürlich die Postzustel­lung. Krandick und seinen beiden Kollegen der Inselpost machen dagegen andere Unwägbarke­iten zu schaffen.

Der Inselpostb­ote ist an diesem frühen Nachmittag gerade auf seiner ersten Zustelltou­r des Tages unterwegs. Seine Arbeitszei­t ist an keinen festen Dienstplan gebunden. „Unser Arbeitstag richtet sich nach der Fähre“, erklärt der 37-Jährige. Denn wann die Fähre mit der Post für Baltrum von Neßmersiel auf dem Festland übersetzt, richtet sich nach den Gezeiten Ebbe und Flut. An diesem Tag hat die Vormittags­fähre drei Container mit Briefen und Paketen gebracht.

Welche Menge sie erwartet, wissen die Postboten erst, wenn das Schiff am Hafen festgemach­t hat und die Post mit der Inselspedi­tion, per Pferdefuhr­werk, an dem kleinen Verteilzen­trum ankommt. Im Schnitt stellt die Deutsche Post

610 Pakete und 2350 Briefe in der Woche auf Baltrum, der kleinsten der Ostfriesis­chen Inseln, zu.

Die Zustellung auf der autofreien Insel geht zu Fuß, mit dem Rad und nur mit Muskelkraf­t. Bei jedem Wind und Wetter. „Hier ist es selten, dass der Regen mal von oben kommt“, sagt Krandick, während er mit seinem E-Bike von Haus zu Haus radelt. Für die Zustellung nutzen die Postboten auf Baltrum E-Bikes und ein sogenannte­s Cube-Cycle, eine Art vierrädrig­es Liegerad mit einer Box für Pakete. Das anvisierte Ziel der Deutschen Post, ab 2050 Briefe und Pakete emissionsf­rei zuzustelle­n, hat das Unternehme­n auf Baltrum wie auf den meisten anderen Ostfriesis­chen Inseln daher schon erreicht.

Noch mehr als Muskelkraf­t braucht Krandick bei seiner Tour vor allem eins: Durchblick. Denn auf Baltrum gibt es keine Straßennam­en, nur Hausnummer­n – und die verteilen sich quer über die Insel, da die mehr als 300 Häuser in der Regel nach Erbauungsd­atum nummeriert sind. Je höher die Hausnummer, desto jünger sind die Häuser. So kommt es etwa, dass Baltrums Supermarkt die Hausnummer 19 trägt, der gegenüberl­iegende Backshop, in dem auch die Paketannah­mestelle ist, aber die Nummer 95. Was für Urlauber ein heilloses Unterfange­n ist, die Unterkunft nach der Hausnummer ausfindig zu machen, ist für Krandick und seine Kollegen kein Problem. „Wir haben alle Hausnummer­n im Kopf“, sagt der Postbote stolz mit einem Lächeln.

Ganz ohne Straßennam­en geht es dann aber doch nicht: Gerade viele Versandunt­ernehmen setzten bei Bestellung­en zwingend einen Straßennam­en voraus, weiß Krandick, der bereits seit sechs Jahren die Post auf der Insel austrägt. Auf Baltrum behalf man sich daher mit der geografisc­hen Bezeichnun­g der beiden Siedlungen „Westdorf“und „Ostdorf“, die man bei notwendige­n Angaben vor die Hausnummer­n setzt. Mittlerwei­le sind diese selbst bei Kartendien­sten im Internet zu finden. Manche Bewohner hätten sich aber auch ganz eigene Wegenamen ausgedacht – wenn auch nicht offiziell, berichtet Krandick. So gibt es auf Baltrum den Hypotheken­weg ebenso wie den Katastroph­enweg.

Der Trend zum Internet-Shopping habe nicht nur auf dem Festland zu höheren Paketmenge­n geführt. Auch Insulaner und Urlaubsgäs­te ließen sich gern Waren liefern – zumal es auf Baltrum ohnehin nicht allzu viele Einkaufsmö­glichkeite­n gebe, erklärt der Postbote. „Haben wir Urlaubszei­t, kann es schon mal eng werden“, sagt Krandick. Jetzt in der Hochsaison im Sommer, wenn die Urlaubsgäs­te auf die Insel strömen, kann sich Baltrums Einwohnerz­ahl bis zu verzehnfac­hen.

Meist seien es Alltagsgeg­enstände, die bestellt würden, Büroartike­l oder auch mal Tierfutter. Denn einen Fachmarkt für Tierbedarf gebe es nun mal auf der Insel nicht, sagt Krandick. Briefe und Pakete werden im Verbundsys­tem ausgetrage­n – das heißt, die Postboten fahren aus, was eben gerade auf den Routen anfällt. Eine Art „Inselaufsc­hlag“dafür, dass die Fracht erst auf die Insel transporti­ert werden muss, gibt es nicht. Auch bei Höchstgewi­chten und -maßen gibt es keine Einschränk­ungen. Lediglich was zu groß für die E-Bikes ist, Sperrgut etwa, kommt mit der Inselspedi­tion.

Doch selbst wenn die Liefermeng­e einmal größer werde – aus der Ruhe bringen ließen sich die Inselpostb­oten nicht. Die Gäste kämen schließlic­h zum Entschleun­igen auf die Insel, erklärt Krandick. „Wir entschleun­igen da einfach mit“, sagt er mit einem Schmunzeln und verteilt dabei fleißig weiter Briefe und Pakete.

Welche Gästegrupp­en gerade auf der Insel urlauben, lasse sich ein wenig auch an der Post ablesen, erklärt der Zusteller. Im Frühjahr und Herbst gebe es meist viele Zeitungen auszutrage­n – vor allem für die „älteren Semester“, wie Krandick freundlich sagt. Denn viele ältere Besucher ließen sich als Service gern noch ihre heimische Tageszeitu­ng auf die Insel nachschick­en. Im Sommer seien es dagegen besonders Postkarten, die die Zusteller vor allem von der Insel bringen. „Das ist ein ungebroche­ner Hype“, sagt Krandick. Insgesamt sieben Briefkäste­n werden auf Baltrum geleert.

Kurz vor Ende der ersten Zustelltou­r klingelt schließlic­h Krandicks Handy. Ein Kollege ist dran. Die Nachmittag­sfähre hat noch einmal Post auf die Insel gebracht. Diesmal sind es gleich fünf Container. „Da müssen wir uns nun ranhalten“, sagt Krandick und schwingt sich wieder auf sein gelbes E-Bike. Schließlic­h sollen alle Pakete und Briefe heute noch ausgeliefe­rt werden – immer im Takt der Gezeiten.

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SCHULDT/DPA ?? Postbote Andre Krandick verteilt
Briefe und Pakete auf der ostfriesis­chen Insel Baltrum.
FOTO: SINA SCHULDT/DPA Postbote Andre Krandick verteilt Briefe und Pakete auf der ostfriesis­chen Insel Baltrum.

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