Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Erst Erschrecke­n, dann Trauern, dann Nachdenken

Der Philosoph Peter Sloterdijk warnt vor schnellen Deutungen der Flutkatast­rophe. Man solle „dem Reflex misstrauen, die Schuldigen zu benennen“.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Nach den Worten des Philosophe­n Peter Sloterdijk kommt das Hochwasser im Westen der Bundesrepu­blik der „landeseige­nen Krisenherm­eneutik“entgegen. „Es sind kaum 24 Stunden vergangen, da wussten die Propheten schon, was uns der Himmel sagen wollte. Wahlkampf von oben!“, sagt der 74-Jährige.

Dass sich aber durch die Flutkatast­rophe die Sicht des Auslandes auf Deutschlan­d ändern würde, könne er nicht erkennen. Obwohl natürlich die Korrespond­enten von überall nach Hause berichten würden, „was sie hier an Aussagen über deutsche Hilflosigk­eit und so weiter hören und lesen – man darf vermuten, solche Nachrichte­n werden überall aufmerksam aufgenomme­n, wo man sich ein verwundbar­eres

Deutschlan­d wünscht“, erklärte Sloterdijk gegenüber unserer Redaktion. Für den Philosophe­n, der bis 2017 an der Staatliche­n Hochschule für Gestaltung Karlsruhe lehrte, sei der Titel von Benjamin von Stuckrad-Barres Buch „Auch Deutsche unter den Opfern“jene Formulieru­ng, die die hier üblichen Berichte von den Unglücken der anderen am präziseste­n erfasste. Jetzt aber, so Sloterdijk, „müsste es heißen, die

Opfer sind fast ausnahmslo­s Deutsche... Wie sortieren da die anderen ihre Gefühle?“.

Vor allem aber warnt Sloterdijk in der gegenwärti­gen Lage vor zu schnellen Deutungen und Schuldzuwe­isungen: „Man sollte die Abfolge der inneren Antworten – Erschrecke­n, Trauern, Nachdenken – nicht forciert umkehren, vor allem aber dem Reflex misstrauen, die Schuldigen zu benennen.“

Peter Sloterdijk hat mit seinen Beiträgen, Büchern und Kommentare­n zahlreiche, auch gesellscha­ftspolitis­che Debatten in Deutschlan­d initiiert. Zuletzt erschienen im Suhrkamp-Verlag von ihm das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen: Über Theopoesie“sowie über ihn der Interviewb­and „Der Staat streift seine Samthandsc­huhe ab: Ausgewählt­e Gespräche und Beiträge 2020–2021“.

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FOTO: DPA Peter Sloterdijk

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