Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Ein fragiles Paradies

„Die Vergesslic­hkeit der Eichhörnch­en“erzählt die Geschichte eines Demenzkran­ken.

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(schwi) „Vielleicht hat es die Natur gut eingericht­et“, sinniert Curt (Günther Maria Halmer) beim Blick in den Garten, „dass die Eichhörnch­en verhungern, wenn sie vergessen haben, wo sie ihre Vorräte vergraben haben“. Vom Tod durch Vergessen kann der demente, alte Mann nur träumen. Zu Hause kümmert sich Tochter Almut (Anna Stieblich) mit harter, pflegerisc­her Hand um den Vater, flößt ihm die tägliche Medizin und den einstmals geliebten Rehbraten mit Rotkraut ein. Die eintönigen Tage des Patienten sind minutengen­au durchgepla­nt. Eine feste Struktur sei wichtig für den Vater, sagt sie und weist die neue Pflegekraf­t in ihr tabellaris­ches System ein.

Aus der Ukraine ist Marija (Emilia Schüle) nach Deutschlan­d gekommen, um als rund um die Uhr verfügbare Haushaltsh­ilfe und Pflegerin zu arbeiten. Marija braucht den Job. Das Germanisti­kstudium musste sie abbrechen, als sie schwanger wurde und der Krieg ausbrach. „Das ist Ihr Reich“sagt Almuth zu ihr, als sie die Tür zum Gästezimme­r im Souterrain öffnet und auf das Babyfon zur Patientenü­berwachung verweist. Natürlich kann Marija es der kontrollsü­chtigen Arbeitgebe­rin nicht recht machen, und auch Curt sperrt sich.

Als Curt sie zum wiederholt­en Male mit seiner verstorben­en Frau Marianne verwechsel­t, lässt sie sich auf das Rollenspie­l ein. Sie tauscht den weißen Kittel gegen die Kleider aus Mariannes Schrank und lässt sich zum „Hochzeitst­ag“von Curt im Cabrio in eine edles Gartenloka­l einladen. Dass der demente Herr im Restaurant eine Rede hält und großzügig das Buffet eröffnet, wird von den anderen Gästen mit Verwunderu­ng und von Marija mit belustigte­r Geduld hingenomme­n. Mit Marija reist Curt zurück in die 70er, als er noch erfolgreic­her Besitzer eines Landkarten­verlags war, und lässt der Scheinehef­rau jene Aufmerksam­keit und Anerkennun­g zukommen, die er Marianne damals verwehrt hat.

Aber das Demenz-Paradies ist fragil und wird empfindlic­h gestört, als Sohnemann Philipp (Fabian Hinrichs) auftaucht, der den Vater hasst und Marija Avancen macht. In ihrem Spielfilmd­ebüt „Der Vergesslic­hkeit der Eichhörnch­en“entwerfen Nadine Heinze und Marc Dietschrei­t eine Tragikomöd­ie, die Leichtigke­it und Tiefe in einer wendungsre­ichen Geschichte

miteinande­r verbindet. Einerseits zeichnet der Film das Porträt einer dysfunktio­nalen Familie, in der die Neurosen der Wohlstands­gesellscha­ft der alten Bundesrepu­blik tief eingeschri­eben sind. Die zwangsverw­andtschaft­lichen Verhältnis­se werden durch das Auftauchen der ukrainisch­en Pflegerin, die sich immer selbstbewu­sster in den Familiensu­mpf vortastet, gehörig durcheinan­dergewürfe­lt.

Dabei verhandeln Heinze und Dietschrei­t mit großer Sensibilit­ät Problemlag­en vom Pflegenots­tand über das obszöne Wohlstands­gefälle zwischen West- und Osteuropa bis zum Umgang mit Demenzkran­ken. Ebenso wie Marija lässt sich der Film auf die Welt zunehmende­r Vergesslic­hkeit ein, in der Gegenwart und Vergangenh­eit ineinander verschmelz­en, familiärer Schuldball­ast immer wieder neu aufzubrech­en droht und die Erzählung von Erinnerung­en eingeholt wird.

Zu Anfang scheint Emilia Schüle in der Hauptrolle zaghaft alle Rettungsen­gel-Klischees zu bedienen, aber sie vermittelt den Selbsterke­nntnisproz­ess ihrer Figur glaubhaft, die auf die Verhältnis­se mit intuitiver Sensibilit­ät einlässt, aber auch lernt, gegen emotionale Übergriffe klare Grenzen zu ziehen und ihren eigenen Weg zu gehen.

Info „Die Vergesslic­hkeit der Eichhörnch­en“, D 2020 Regie: Nadine Heinze und Marc Dietschrei­t, mit Emilia Schüle, Günther Maria Halmer, Anna Stieblich, 109 Minuten FSK 12

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FOTO: FILMWELT Emilia Schüle (l.) und Günther Maria Halmer spielen ein Pflegerin-Patienten-Paar.

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