Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Der Flaschengeist
Thomas Vinterbergs Film „Der Rausch“beschäftigt sich auf berührend tragikomische Weise mit der männlichen Midlife-Crisis und Alkoholkonsum.
Der 40. Geburtstag wird mit den Freunden in einem Nobelrestaurant gefeiert. Zum Anstoßen gibt es erst einmal Champagner aus dem Jahre 2013 mit mineralischer Note. Zum Kaviar einen tiefgekühlten Imperia-Wodka mit kristallisierten Wasseranteilen. Und zum Hauptgang einen Burgunder aus dem Jahr 2011, von dem Robert Parker geschrieben hat, dass er die Seele der Weinregion in sich trägt.
Genüsslich lassen die Männer den edlen Alkohol die Kehle hinunter rollen. Nur Martin (Mads Mikkelsen) trinkt Mineralwasser. Er muss noch fahren. Den Kindern hat er gesagt, dass es nicht spät wird, auch wenn die beiden Jungs beim Abschied vom Fernseher nicht aufgeblickt haben. Aber die Freunde drängen, schließlich gibt Martin nach. „Bin ich langweilig?“, hatte er am Abend zuvor seine Frau gefragt. „Du bist nicht mehr wie früher“, hatte Anika (Maria Bonnevie) diplomatisch geantwortet. Am Morgen danach hatten sich Eltern und Schüler über seinen wenig inspirierenden Geschichtsunterricht beklagt. Also herunter mit dem Wodka. Und den Rotwein gleich hinterher.
Die anderen schauen ihm zu, freuen sich zunächst, bis ihr Blick erstarrt. Martins Augen sind feucht geworden. Die Lippen zittern. Seine innere Verzweiflung hat sich unter Alkoholeinfluss Bahn gebrochen. Die Freunde trösten ihn, so gut sie können, hören ihm zu, fassen ihn an der Schulter, graben gemeinsame Jugenderlebnisse hervor, erinnern ihn an seine Jazz-Tänzer-Vergangenheit
– und schenken ihm nach. Schließlich habe, so erklärt Nikolaj (Magnus Millang), schon der norwegische Psychologe Finn Skårderund festgestellt, dass der Mensch mit einem Alkoholdefizit von einem halben Promille auf die Welt komme.
Der trinkselige Abend, Martins emotionale Öffnung und die steile wissenschaftliche These werden für die vier Freunde zur Offenbarung in Thomas Vinterbergs „Der Rausch“, der in diesem Jahr mit dem Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film und vielen anderen Preisen ausgezeichnet worden ist. Das Quartett, allesamt Lehrer am selben Gymnasium, beschließt, Skårderunds Behauptung im Selbstversuch einer Prüfung zu unterziehen.
Vor dem Unterricht wird auf der Schultoilette heimlich der Schnaps eingeflößt und der Promille-Gehalt mit dem Messgerät kontrolliert. Am
Abend werden die Erfahrungen genau protokolliert. Und sie stellen fest: Die Wirkung des Alkohols setzt Inspirationen frei und bringt die kriselnden Männer dazu, der eigenen Intuition zu vertrauen und spontane Entscheidungen zu treffen. Aber dann treiben sie das Forschungsvorhaben weiter und erhöhen die Dosis, um den individuellen Maximalwert zu ermitteln. Das Besäufnis bringt ungeahnte Euphorie zutage, aber auch Platzwunden, Suchtstrukturen, uringetränkte Ehebetten und unumkehrbare Beziehungskrisen.
In „Der Rausch“setzt sich Vinterberg mit der Trinkkultur seines Land auseinander, wo Jugendliche so früh wie in keinem anderen europäischen Land mit dem Konsum von Bier, Wein und Schnaps beginnen und sechs Prozent aller Todesfälle auf Alkohol zurückzuführen sind. Aber Vinterberg geht das Thema ohne moralische Vorbehalte an. Er zeigt die Energie, Kreativität
und Lebenslust, die ein erhöhter Blutalkoholwert bringen, ebenso wie Suchtgefahr und Auswirkungen auf soziale Beziehungen. Er tut dies ohne den jenen Erkenntnisdruck, mit dem im filmischen Diskurs normalerweise die Nüchternheit als einziger Weg propagiert wird.
Vor allem aber trägt „Der Rausch“auf tragikomische Weise ein tiefes Verständnis männlicher Midlife-Crisis in sich, die von Leistungsdruck und Versagensängsten im kontrollierenden gesellschaftlichen Klima angetrieben wird. Mikkelsen ist schlichtweg hinreißend als tiefenfrustriertes, verletztes Mannsbild, in dessen kriselnder Seele der Alkohol ein Stück Erlösung, aber keine Problemlösungen freisetzt.
Wirkungsvoll spiegelt Vinterberg, dessen Tochter vier Tage nach Drehbeginn bei einem Autounfall ums Leben kam, das Alkoholexperiment der Lehrer mit der Lebenswelt der Schülerschaft. Bei den Jugendlichen
werden durch schulischen Leistungsdruck und Alkoholkonsum bestimmte Strukturen schon angelegt. Gleichzeitig sehen die kriselnden Pädagogen mit melancholischer Sehnsucht in den Schülern die eigene verblasste Jugend vor sich.
Nachdem Martin und seine Freunde den alkoholkranken Tommy zu Grabe getragen haben, fahren die frisch gebackenen Abiturienten vor und verwandeln das Kopenhagener Hafenbecken in eine wilde Party. Die Lehrer lassen sich von der feiernden Menge mitreißen. Nach einem tiefen Schluck aus der Sektflasche holt Martin seine Jazz-Dance-Erfahrungen hervor und tanzt mit herzzerreißendem Schwung kreuz und quer durch das Hafenbecken. Eine Schlussszene, die im Gedächtnis bleibt, weil sie in ihrer Euphorie die ganze wunderbare Widersprüchlichkeit des Lebens in sich trägt und mehr Fragen als Antworten hinterlässt.