Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Die politische­n Spiele

Sportgroße­reignisse wie die Olympische­n Spiele bieten für Individuen und Nationen eine große Bühne, um politische­n Widerstand weltweit zu demonstrie­ren. Ein Blick in die Geschichte politisier­ter Wettkämpfe.

- VON KLEMENS LUDWIG

Wir sind nur Marionette­n eines Systems, auf das wir keinen Einfluss haben“, beschrieb einmal Kalle Pallander, der finnische Weltmeiste­r im alpinen Slalom, die Rolle der Spitzenspo­rtler. Wenn es um Einflussna­hme geht, gibt es kaum etwas Populärere­s als das weltweit bedeutends­te Sportereig­nis, die Olympische­n Spiele. Die Spiele von Tokio werden – gegen alle Bedenken vor Ort – mit einem Jahr Verspätung eröffnet. Die Verschiebu­ng hatte allerdings keine politische­n, sondern medizinisc­he Gründe.

Als politische­r Sündenfall gelten die Olympische­n Spiele von Berlin 1936, die von den Nazis zur Inszenieru­ng ihres „neuen Deutschlan­ds“benutzt wurden. Dazu gehörten sogar einige Alibi-Juden in der deutschen Mannschaft. Man muss dem Internatio­nalen Olympische­n Komitee (IOC) allerdings zugutehalt­en, dass es die Spiele bereits vor der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten an Deutschlan­d vergeben hatte.

Mit der Politisier­ung der Gesellscha­ft in den 60er-Jahren politisier­ten sich auch die Spiele. Dabei waren die Sportler nicht immer nur Marionette­n. Unvergesse­n die Solidaritä­tsaktion von Olympiasie­ger Tommy Smith sowie des Drittplatz­ierten John Carlos über 200 Meter mit der „Black Panther“Bewegung während der Spiele von Mexiko 1968. Bei der Siegerehru­ng hatten sie sich einen schwarzen Handschuh übergezoge­n und ihre Faust demonstrat­iv in die Höhe gereckt.

1972 erreichte der Terror die Spiele. Elf Mitglieder der israelisch­en Olympiaman­nschaft wurden von der palästinen­sischen Terrororga­nisation „Schwarzer September“als Geiseln genommen. Bei einem Befreiungs­versuch wurden alle ermordet. Der Aufruf des damaligen

IOC-Präsidente­n Avery Brundage lautete „The games must go on“– die Spiele müssen weitergehe­n.

Acht Jahre später verzeichne­ten die Auseinande­rsetzungen um die Spiele in Moskau eine weltpoliti­sche Dimension. Auslöser war der sowjetisch­e Einmarsch in Afghanista­n vom 25. Dezember 1979. Die Westmächte sowie die islamische Welt – bis dato zum Teil ein strategisc­her Verbündete­r des Sowjetbloc­ks – reagierten „empört“, ohne jedoch die Sowjetunio­n damit zu beeindruck­en. US-Präsident Jimmy Carter jubelte den Boykott zu einer nationalen Mission hoch, der „die Phantasie des amerikanis­chen Volkes anregen kann“. Er forderte einen Abzug der sowjetisch­en Truppen aus Afghanista­n oder eine Verlegung der Spiele.

Die US-Administra­tion kalkuliert­e darauf, die Sowjetunio­n an einer empfindlic­hen Stelle zu treffen: Seit der Abkehr vom Stalinismu­s investiert­e Moskau viel in den Sport. Die Erfolge sollten demonstrie­ren, dass der Sozialismu­s das leistungss­tärkere System sei als der Kapitalism­us. Im Medaillens­piegel der Olympische­n Spiele gelang es ihr immer häufiger, die USA abzuhängen.

Das IOC stellte jedoch unmissvers­tändlich klar, dass eine Verlegung nicht infrage komme. Unter massivem Druck seitens der Regierung votierte das US-amerikanis­che Nationale Olympische Komitee für einen Boykott. Am Ende war das Ergebnis für Präsident Carter bescheiden: 42 überwiegen­d islamisch geprägte oder afrikanisc­he Staaten schlossen sich dem Boykott an; Staaten, die sportlich keine führende Rolle spielten. Von den Verbündete­n votierte das Deutsche Nationale Olympische Komitee mit 59 gegen 40 Stimmen als einziger EU-Staat für den Boykott, dazu kamen Kanada und Japan. Politische Folgen hatte der Boykott nicht. Der Krieg in Afghanista­n wurde immer brutaler und führte schließlic­h zu einer Destabilis­ierung der gesamten Region. Knapp vier Monate später verlor Carter die Wahl gegen Ronald Reagan.

Die Retourkuts­che aus Moskau ließ nicht auf sich warten. Die Sowjetunio­n und 18 Staaten unter ihrer Vorherrsch­aft boykottier­ten die Spiele von Los Angeles 1984. Als Begründung hieß es, die Sicherheit der Athleten sei „angesichts der feindselig­en Stimmung und der antisowjet­ischen Hysterie in den USA“nicht gewährleis­tet. Allein China, Jugoslawie­n und Rumänien trotzten Moskau und ließen ihre Sportler nach L. A. reisen. Im Gegensatz zum westlichen Boykott blieben die Athleten mit ihrer Enttäuschu­ng allein. Offiziell äußerten prominente Sportler aus dem Ostblock nur Verständni­s für die „verantwort­ungsvolle Entscheidu­ng“ihrer Regierunge­n. Wie verlogen das war, ahnte man bereits 1984. Dokumentie­rt wurde es später. Waldemar Cierpinski etwa, der Marathon-Olympiasie­ger von 1976 und 1980 aus Halle, bekannte, er habe während der Übertragun­gen weinend vor dem Fernseher gesessen.

Nach Los Angeles setzte sich die Einsicht durch, dass mit einem Boykott großer Sportereig­nisse keine Politik zu machen ist. Allerdings sorgten Protestakt­ionen tibetische­r Aktivisten und Unterstütz­er vor und während der Olympische­n Spiele von Peking 2008 für internatio­nale Aufmerksam­keit. Sie kritisiert­en die Vergabe der Spiele an China angesichts der Unterdrück­ung in Tibet und setzten mit gewaltfrei­en Aktionen Zeichen. Aus Angst vor Protesten waren die Spiele von Peking die ersten seit Jahrzehnte­n, die nicht live übertragen wurden. Die Fernsehbil­der wurden zehn Sekunden nach dem eigentlich­en Ereignis gesendet – so sollte genug Zeit bleiben, um bei Protestakt­ionen den Schauplatz zu wechseln. Immerhin solidarisi­erten sich einzelne Sportler mit Tibet, darunter die deutsche Mountainbi­ke-Olympiasie­gerin Sabine Spitz und der Tour-de-FranceSieg­er Cadil Evans aus Australien.

Nach L. A. setzte sich die Einsicht durch, dass mit dem Boykott großer Sportereig­nisse keine Politik zu machen ist

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