Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Die Inzidenz verliert an Bedeutung
Trotz steigender Infektionszahlen kann ein vierter Lockdown vermieden werden.
Die hochansteckende DeltaVariante des Coronavirus hat wieder Dynamik in die Ausbreitung des Erregers gebracht. In Europa stieg die Zahl der Infizierten über 50 Millionen, in Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden lag die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner (Inzidenz) am Donnerstag bei 489 beziehungsweise 409 – mit steigender Tendenz. Auch in Deutschland nimmt die Dynamik wieder zu. Die Inzidenz ist zwar mit 12,2 noch relativ niedrig, aber die Zuwachsraten sind groß. Wenn 100 Infizierte 120 weitere Personen anstecken, wie das derzeit der Fall ist, verdoppelt sich die Inzidenz ungefähr alle zwei Wochen. Dann wäre Deutschland schon Anfang September bei einem Wert von über 100. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erwartet sogar Inzidenzen von 800 im Oktober.
Doch solche Simulationen sind mit Vorsicht zu genießen. Denn wenn die Inzidenzen und vor allem die Einweisungen in die Krankenhäuser steigen, verändern die
Menschen ihr Verhalten. Auch das Impftempo ist entscheidend. Das Robert-Koch-Institut kalkuliert deshalb in seinen Vorausberechnungen mit niedrigeren Zahlen. So würden bei einer Impfquote von 75 Prozent der 16- bis 59-Jährigen die Inzidenzen im Herbst zwischen 50 und 100 liegen. Und wichtiger noch: Die Zahl der Menschen, die eine intensivmedizinische Behandlung benötigten, könnte auf 1500 begrenzt werden.
„Die vierte Welle darf und wird nicht zum vierten Lockdown führen“
Andreas Gassen Kassenärztliche Bundesvereinigung
Das ist deutlich unter den Höchstwerten von 5700 im Januar dieses Jahres. Damals drohte eine Überlastung der Krankenhäuser.
Wissenschaftler wie der Telematik-Professor Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin halten es deshalb für angemessen, die Steuerung der Pandemie entlang der Einweisungen in die Kliniken vorzunehmen. „Der Anstieg in den Krankenhäusern ist laut unseren Simulationen lange vor dem Eintreten einer Überlastungssituation deutlich zu sehen, sodass dies möglich sein müsste“, schrieb der Corona-Experte, der auch Kanzlerin Angela Merkel berät, in seinem jüngsten Bericht an das Bundesforschungsministerium. Allerdings müssten die Corona-Regeln wie Abstand halten, Maskenpflicht und vor allem Lüften und Testen in den Schulen eingehalten werden.
Auch der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hat Bund und Länder angesichts der steigenden Corona-Infektionszahlen vor einem überhasteten Handeln und einem erneuten Lockdown gewarnt. „Es ist zunächst einmal nicht überraschend, dass die Fallzahlen wieder steigen. Das alleine aber ist wenig aussagekräftig, da sich die Inzidenzen mit steigender Impfquote von der Zahl der schweren Verläufe entkoppeln“, so Gassen. Corona werde für Geimpfte ungefährlicher, das ist an den Zahlen in Großbritannien und auch an den bisherigen Daten aus Deutschland zu sehen: „Die vierte Welle darf und wird deswegen nicht zu einem vierten Lockdown führen.“