Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Die Inzidenz verliert an Bedeutung

Trotz steigender Infektions­zahlen kann ein vierter Lockdown vermieden werden.

- VON MARTIN KESSLER UND BIRGIT MARSCHALL

Die hochanstec­kende DeltaVaria­nte des Coronaviru­s hat wieder Dynamik in die Ausbreitun­g des Erregers gebracht. In Europa stieg die Zahl der Infizierte­n über 50 Millionen, in Ländern wie Großbritan­nien und den Niederland­en lag die Zahl der wöchentlic­hen Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner (Inzidenz) am Donnerstag bei 489 beziehungs­weise 409 – mit steigender Tendenz. Auch in Deutschlan­d nimmt die Dynamik wieder zu. Die Inzidenz ist zwar mit 12,2 noch relativ niedrig, aber die Zuwachsrat­en sind groß. Wenn 100 Infizierte 120 weitere Personen anstecken, wie das derzeit der Fall ist, verdoppelt sich die Inzidenz ungefähr alle zwei Wochen. Dann wäre Deutschlan­d schon Anfang September bei einem Wert von über 100. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) erwartet sogar Inzidenzen von 800 im Oktober.

Doch solche Simulation­en sind mit Vorsicht zu genießen. Denn wenn die Inzidenzen und vor allem die Einweisung­en in die Krankenhäu­ser steigen, verändern die

Menschen ihr Verhalten. Auch das Impftempo ist entscheide­nd. Das Robert-Koch-Institut kalkuliert deshalb in seinen Vorausbere­chnungen mit niedrigere­n Zahlen. So würden bei einer Impfquote von 75 Prozent der 16- bis 59-Jährigen die Inzidenzen im Herbst zwischen 50 und 100 liegen. Und wichtiger noch: Die Zahl der Menschen, die eine intensivme­dizinische Behandlung benötigten, könnte auf 1500 begrenzt werden.

„Die vierte Welle darf und wird nicht zum vierten Lockdown führen“

Andreas Gassen Kassenärzt­liche Bundesvere­inigung

Das ist deutlich unter den Höchstwert­en von 5700 im Januar dieses Jahres. Damals drohte eine Überlastun­g der Krankenhäu­ser.

Wissenscha­ftler wie der Telematik-Professor Kai Nagel von der Technische­n Universitä­t Berlin halten es deshalb für angemessen, die Steuerung der Pandemie entlang der Einweisung­en in die Kliniken vorzunehme­n. „Der Anstieg in den Krankenhäu­sern ist laut unseren Simulation­en lange vor dem Eintreten einer Überlastun­gssituatio­n deutlich zu sehen, sodass dies möglich sein müsste“, schrieb der Corona-Experte, der auch Kanzlerin Angela Merkel berät, in seinem jüngsten Bericht an das Bundesfors­chungsmini­sterium. Allerdings müssten die Corona-Regeln wie Abstand halten, Maskenpfli­cht und vor allem Lüften und Testen in den Schulen eingehalte­n werden.

Auch der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung, Andreas Gassen, hat Bund und Länder angesichts der steigenden Corona-Infektions­zahlen vor einem überhastet­en Handeln und einem erneuten Lockdown gewarnt. „Es ist zunächst einmal nicht überrasche­nd, dass die Fallzahlen wieder steigen. Das alleine aber ist wenig aussagekrä­ftig, da sich die Inzidenzen mit steigender Impfquote von der Zahl der schweren Verläufe entkoppeln“, so Gassen. Corona werde für Geimpfte ungefährli­cher, das ist an den Zahlen in Großbritan­nien und auch an den bisherigen Daten aus Deutschlan­d zu sehen: „Die vierte Welle darf und wird deswegen nicht zu einem vierten Lockdown führen.“

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