Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Großbritan­nien leidet unter der Freiheit

Mehr als eine Million Menschen im Königreich müssen sich derzeit isolieren. Weil immer mehr Fachkräfte ausfallen, bleiben die Supermarkt­regale leer.

- VON JOCHEN WITTMANN

Die leeren Regale sind wieder zurück. Kein frischer Salat mehr in einem Tesco-Laden in Glasgow, kein Aufschnitt in einem SainsburyS­hop in Manchester: Britischen Supermärkt­en gehen die Produkte aus. Ratlose Käufer stehen vor ausgeräumt­en Regalen und fürchten, dass die schlimmen Zeiten zurückkehr­en wie am Anfang der Pandemie, als im gesamten Land Panik-Einkäufe stattfande­n. So schlimm ist es zum Glück noch nicht gekommen, aber Großbritan­nien leidet jetzt unter einer sogenannte­n Pingdemie.

Immer mehr Menschen werden von ihrem Smartphone angepingt und aufgeforde­rt, sich zu isolieren, weil sie in engem Kontakt zu jemandem waren, der sich mit Corona infitiert hat. Der „Tag der Freiheit“vergangene­n Montag, als sämtliche gesetzlich­e Beschränku­ngen des öffentlich­en Lebens aufgehoben wurden, hat die Situation verschärft. Mehr soziale Kontakte bedeutet mehr Ansteckung­en und mehr Quarantäne.

Die Komplettöf­fnung des Landes in einer Phase eines stark steigenden Infektions­geschehens hat zu Ausfällen beim Einzelhand­els-Personal geführt. Supermärkt­e erhalten keinen Nachschub mehr, weil die Fahrer der Lieferwage­n sich isolieren müssen. Oder sie müssen schließen, weil es nicht mehr genug Mitarbeite­r in den Filialen gibt, die die Waren in die Regale stapeln.

Nick Allen, der Geschäftsf­ührer des Britischen Verbands der Fleischver­arbeiter, warnte davor, dass die Briten bald auf Würstchen und andere Fleischpro­dukte verzichten werden müssen, weil die Situation in den Schlachthö­fen wegen der Personalkr­ise immer kritischer wird: „Sie werden schließen müssen. Wir haben in der ganzen Pandemie nie eine schlimmere Situation erlebt.“

Die Pingdemie erwischt nicht nur den Lebensmitt­elsektor. Mehr als eine Million Menschen im Königreich müssen sich zur Zeit isolieren, weil sie von ihrer Smartphone-App oder einem Mitarbeite­r von „Test and Trace“, der staatliche­n Kontaktnac­hverfolgun­g, in die Quarantäne geschickt wurden. Der Personalau­sfall betrifft alle möglichen Bereiche: In Dutzenden Kommunen findet keine Müllabfuhr statt. Restaurant­s und Pubs müssen schließen, weil sie keine Mitarbeite­r haben. Die Post kommt verspätet, und Tankstelle­n haben kein Benzin mehr. Selbst die Regierung hat es getroffen. Nachdem sich Gesundheit­sminister Sajid Javid angesteckt hatte, müssen sich nun auch Finanzmini­ster Rishi Sunak und Premiermin­ister Boris Johnson für zehn Tage isolieren.

Rufe aus der Wirtschaft werden laut, dass die Regierung die Regeln lockern muss: Wer doppelt geimpft ist, sollte nicht mehr in Quarantäne gehen müssen, lautet eine Forderung. Covid-Kontakten sollte erlaubt werden, sich durch tägliche Negativ-Tests von der Isolierung zu befreien. Doch die Regierung will hart bleiben. An diesem Donnerstag bestätigte Wirtschaft­sminister Kwasi Kwarteng, dass es nur eine „begrenzte Liste“von Arbeitern – hauptsächl­ich Personal im Gesundheit­swesen oder im Energie- und Telekommun­ikationsse­ktor – geben wird, für die diese Erleichter­ungen gelten sollen. Da Mitabeiter im Speditions­wesen oder von Supermärkt­en nicht dazugehöre­n sollen, dürfte es zu immer mehr leeren Regalen kommen.

Dabei startete die Komplettöf­fnung des Landes schon extrem: Am Sonntag begann es um eine Minute nach Mitternach­t in den Discos und Nachtclubs von England. Hunderttau­sende junge Briten hatten ihre neue Freiheit ohne Maske und Abstandsre­geln gefeiert und tanzten bis in die frühen Morgenstun­den. Premier Johnson war entsetzt und drohte gleich am nächsten Tag damit, demnächst nur noch doppelt Geimpften Zugang zu Nachtclubs zu erlauben. Der für die Impfkampag­ne zuständige Minister Nadhim Zahawi erklärte diesen Donnerstag im Unterhaus, dass sich die Regierung vorbehalte, einen Impfauswei­s einzuführe­n. Er selbst, und viele andere Kabinettsm­inister bis hin zu Boris Johnson, hatten das vor wenigen Monaten noch als undenkbar zurückgewi­esen.

Die steienden Infektions­zahlen – am Mittwoch wurden 44.104 neue Ansteckung­en gemeldet – und die zugleich weiter nachlassen­de Impfwillig­keit der jüngeren Altersgrup­pen verschärfe­n die Situation. Von den über 50-Jährigen sind mittlerwei­le mehr als 80 Prozent immunisier­t, aber bei den unter 30-Jährigen beträgt die Quote weniger als

60 Prozent. Um eine Herdenimmu­nität zu erreichen, müssten rund

85 Prozent der Gesamtbevö­lkerung immunisier­t sein. Da 21 Prozent der Briten jünger als 18 Jahre sind, bedeutet das, dass man fast allen Erwachsene­n eine doppelte Impfung geben muss. Das erklärt, warum die Einführung eines Impfpasses immer wahrschein­licher wird: Der Druck wird aufgebaut, um auch die Jungen zu überzeugen, sich impfen zu lassen.

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FOTO: COOPER/DPA Ein Blick auf leere Regale und Schilder in einer Sainsbury’s-Filiale. Die Zahl an Menschen in Quarantäne stellt das Land vor Herausford­erungen.

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