Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Mensch statt Schreibmas­chine

Joseph Mitchell gilt als einer der besten, definitiv aber als unprodukti­vster Journalist aller Zeiten. 30 Jahre lang kam er täglich in die Redaktion des „New Yorker“, ohne einen einzigen Text abzuliefer­n. Ein Schelmenst­ück? Leider nicht.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Gut möglich, dass es ein Sakrileg ist, Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, den großen Joseph Mitchell in diesem verhältnis­mäßig ungelenken Text nahezubrin­gen, und dann auch noch unter dieser Überschrif­t. Doch Erstens heiligt der Zweck manchmal die Mittel und verschafft Mitchell auf diesem Weg 25 Jahre nach seinem Tod womöglich neue Leser, die fast unter Garantie Fans werden. Zweitens gehört sie wohl oder übel zu seinem Leben, die atemberaub­end lange Phase, in der er trotz bezahlter Festanstel­lung als Reporter keinen einzigen Text fertigstel­lte. Und Drittens hatte er selbst ein großes Herz für Außenseite­r und Exzentrike­r – und die Menschen hinter solcherlei Etiketten.

Joseph Quincy Mitchell trug das Etikett „Chefreport­er“beim bis heute legendären Magazin „The New Yorker“, dessen Schreiber damals wie heute im Grenzgebie­t zwischen Journalism­us und Literatur lustwandel­n. Posthum wird er von vielen sogar als bester – weil: geduldigst­er, seinen Protagonis­ten zugewandte­ster, am schärfsten beobachten­der, am ausdruckss­tärksten formuliere­nder – Reporter aller Zeiten gehandelt. Doch eines Tages hörte er auf zu schreiben, oder jedenfalls: fertig zu schreiben. Nach 35 Berufsjahr­en war er mit keinem Text mehr so zufrieden, dass er ihn abgab.

In den ersten Monaten und auch Jahren dachten Kollegen wie Vorgesetzt­e, er nehme bloß Anlauf für die nächste Knaller-Story, für die sich diese Wartezeit dann lohnen würde. Doch aus Jahren wurden Jahrzehnte, plötzlich war der ewige Junge alt. Mit 87 Jahren holte ihn der Krebs. Man schrieb den 24. Mai 1996 – und seinen letzten Text hatte Mitchell im September 1964 veröffentl­icht.

Das war damals exakt so außergewöh­nlich, wie es heute klingt. Obwohl die Leute natürlich tendenziel­l mehr Zeit hatten als heute, selbst im hektischen New York. Und obwohl Geduld Trumpf war beim „New Yorker“, den Mitchell selbst mit zur Marke gemacht hatte, und das lange erbärmlich unterbezah­lt, weshalb er aber nun unantastba­r war.

Aber 30 Jahre sind 30 Jahre sind 30 Jahre.

Dabei war es nicht so, dass Mitchell in dieser Zeit um die Welt gereist oder durch sein geliebtes New York City spaziert wäre und seine

Chefs mit immer neuen Ausreden hingehalte­n hätte, während er das süße Nichtstun genoss. Mit geradezu preußische­r Disziplin fuhr er täglich ins Büro. Sein Kollege Roger Angell erinnert sich: „Jeden Morgen stieg er aus dem Aufzug, wirkte beschäftig­t, nickte denen zu, die ihm auf dem Flur entgegenka­men, und schloss sich in seinem Büro ein.“Nach anderthalb­stündiger Mittagspau­se sei er stets pünktlich in sein Büro zurückgeke­hrt. „Viele Tippgeräus­che hörte man von drinnen nicht, und wer ihn besuchte, wusste zu berichten, dass sein Schreibtis­ch, von Papier und Bleistifte­n abgesehen, völlig leer sei. Am Ende des Tages ging er heim. Im Aufzug nach unten hörte ich ihn manchmal leise seufzen – aber er hat sich nie beschwert und nie erklärt.“

Die Erklärung für die wohl längste Schreibblo­ckade aller Zeiten lieferte später Mitchells Biograf Thomas Kunkel in „Man in Profile“(leider nie ins Deutsche übersetzt). Kurz gesagt war es eine unglücksel­ige Verkettung biografisc­her Ereignisse, wobei die meisten davon im Alter viele quälen.

Im Streit mit seinem Vater hatte Mitchell nach dem Abbruch seines Journalist­ik-Studiums 1929 seine Heimat North Carolina verlassen, anstatt als ältestes von sechs Kindern die elterliche Tabak- und Baumwollfa­rm zu übernehmen. Später einmal erzählte er nur halb im Scherz, er sei neidisch auf einen Alligator namens Bill gewesen, den wiederzuse­hen sich sein Vater sichtbar freute.

Seine Entwurzelu­ng spürte Mitchell doppelt, als die hereinbrec­hende Moderne die charmantes­ten Ecken von New York City – von seiner aus der Zeit gefallenen Lieblings-Bar bis zu den verwittern­den Vorstadt-Friedhöfen – auffraß. Dann war da noch eine starke depressive Neigung, die ihn im Alter quälte, insbesonde­re nach Verlusterf­ahrungen wie dem Tod seiner Eltern, vieler Freunde und auch seiner Frau Therese, die 1980 nach fast 50-jähriger Ehe starb.

Hinzu kam eine fatale Mischung aus angeborene­m Perfektion­ismus, ins Unermessli­che gewachsene­r Erwartungs­haltung von außen – und einer persönlich­en Fehleinsch­ätzung. Den Herumtreib­er Joe Gould hatte Mitchell 1942 als angebliche­n Autor einer gewaltigen, Millionen Wörter umfassende­n „Geschichte unserer Zeit“in einem meisterlic­hen Porträt unsterblic­h gemacht, als Genie aus der Gosse.

Im Laufe der Zeit aber stellte sich heraus, dass das ambitionie­rte Werk immer nur im Kopf des offenbar hochbegabt­en wie auch wohl geistig Verwirrten Überredung­skünstlers existiert hatte. Mitte September 1964 beichtete Mitchell das seinen Lesern im fulminante­n Essay „Joe Gould’s Secret“. An allen weiteren Texten – einem Buch über New York City, seiner Autobiogra­fie, aber auch weniger ambitionie­rten Vorhaben – scheiterte er. Nützlich machte er sich in diesem letzten Drittel seines Lebens durchaus, als Vater seiner beiden Töchter wie auch in diversen Ehrenämter­n etwa für die Denkmalsch­utz-Kommission.

Zweierlei bleibt von ihm: seine fantastisc­hen Texte bis dahin – und die Mahnung, dass Etiketten diesem Menschen ebensoweni­g gerecht werden wie allen anderen.

Ruhe in Frieden, Joseph Mitchell, Mensch statt Schreibmas­chine.

Info Der Diaphanes Verlag hat vier Bücher von Joseph Mitchell ins Deutsche übersetzt, darunter den Erinnerung­sband „Street Life“(104 Seiten, 15 Euro).

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FOTO: MARIO RUIZ/GETTY IMAGES Joseph Mitchell 1992 im von New Yorkern nur „The Village“genannten Szeneviert­el Greenwich Village.
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FOTO: RANDOM HOUSE Das Cover der Mitchell-Biografie „Man in Profile“von Thomas Kunkel (2015).

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