Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Echos im Ehrenhof

Die Band Tocotronic spielte bei der „Summer Edition“des New-Fall-Festivals ein Konzert wie eine ewig währende Zugabe.

- VON CHRISTIAN HEGHOLTZ

Es ist die vielleicht kurioseste Szene des Abends, als Dirk von Lowtzow nach gut einer halben Stunde Konzert den Song „Nach Bahrenfeld im Bus“ankündigt, da man ja gerade ohnehin so bequem beisammens­itze.

Der Sänger der Band Tocotronic, die an diesem lauwarmen Mittwochab­end auf der „Summer Edition“des New-Fall-Festivals gastiert, fremdelt zunächst mit dem Bild, das sich vor seinen Augen abzeichnet. Zwischen farbenfroh­en Blumenbeet­en, Avocado-Schnittche­n und frappierte­n Weißweinfl­aschen liegt der nahezu ausverkauf­te Ehrenhof in Liegestühl­en vor einer kleinen überdachte­n Festivalbü­hne. Darauf spielen Tocotronic ihr erstes Konzert seit nahezu zwei Jahren. Und auch das über lange Zeit verhaltene Publikum versichert sich vorerst dieser altbekannt­en, in die Ferne gerückten Situation. Bekannte Gesichter winken über Sitzreihen hinweg einander zu, trauen sich nur allmählich, mitzusinge­n und lösen langsam die übereinand­ergeschlag­enen Beine, um im Takt zu wippen.

Obgleich von Lowtzow sonst Selbstläuf­er wie schweißtre­ibende Hallenkonz­erte mit einem in Moshpits tanzenden Publikum gewohnt ist, weiß der Frontmann mit der zu Anfang doch gehemmten Stimmung umzugehen und kann durch das scherzhaft­e Siezen der Festivalbe­sucher, pointiert selbstiron­ische Ankündigun­gen des eigenen Katalogs und das Ausbreiten vermeintli­cher Unzulängli­chkeiten beim Stimmen des Saiteninst­ruments zusehends die Atmosphäre lockern.

Es scheint in dieser Situation denn auch zu helfen, dass Tocotronic mittlerwei­le eine gefestigte Band ist, deren eingeübte Konstanten Hörer und Fan gleicherma­ßen das Gefühl des Nach-Hause-Kommens vermitteln. Und so läuft die Band traditione­ll zu orchestral­en Klängen des Dirigenten Seiji Ozawa und des Boston Symphony Orchestra ein, positionie­rt sich auf der Bühne zwischen einer Auswahl an Plüschtier­en und verlässt sie nach knapp zwei Stunden vor dem Hintergrun­d aufheulend­er Gitarren.

Lediglich eine Ausnahme gibt es. Denn das Programm an diesem Abend ist ein anderes als gewöhnlich. Es dürfte auch für das Tour-erprobte Quartett eine Besonderhe­it darstellen. Auf der ersten Hälfte ihrer aktuellen Tour, deren Auftakt das Gastspiel in Düsseldorf darstellt, spielen Tocotronic eine Titelauswa­hl ihrer ersten vier Alben,

die zwischen 1995 und 1999 erschienen und in Hamburg aufgenomme­n wurden. Später veröffentl­ichte Alben, die allesamt in Berlin entstanden, finden in der zweiten Hälfte der Tour Berücksich­tigung.

Anlass dieses zweiteilig­en Liveprogra­mms ist eine groß angelegte Best-of-Veröffentl­ichung aus dem Jahr 2020 mit dem Titel „Sag alles

ab“. Am Mittwochab­end nimmt Tocotronic das Publikum mit auf eine Zeitreise in die 90er-Jahre, den „Hamburg Years“. Für große Teile des Publikums ist das an diesem Abend der Soundtrack der eigenen Jugend, und doch dauert es über eine Stunde, bis sich die ersten – erstaunlic­herweise jungen – Zuschauer vor die Bühne bewegen.

Spätestens als Dirk von Lowtzow sich seiner Kopfbedeck­ung entledigt und der achte Song des Abends, „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“, angestimmt wird, kommt das Publikum mehr und mehr aus sich heraus und skandiert die sloganhaft­en Titel des Frühwerks, die als Echo durch den Ehrenhof raunen: „Ich verabscheu­e euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“, „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegange­n“, „Let there be Rock“. Das Konzert an diesem Abend, es ist eine ewigwähren­de Zugabe. Songs, die in den letzten Jahren den Charakter einer klassische­n Zugabe innehatten, stellen auf dieser Tour das Gros der abendliche­n Setlist dar.

Am Ende ist dann auch jeder Bann gebrochen. Das Publikum steht, singt, tanzt. Es fordert drei Zugaben ein und wird erhört. Und so kommt das Publikum zur zweiten Zugabe in den Genuss des Höhepunkts jenes Abends, der wider Erwarten kein Klassiker der Band darstellt, sondern das erst im letzten Jahr veröffentl­ichte Stück „Hoffnung“, dessen sanft instrument­ierter Schlussver­se „Wenn ich dich nicht bei mir wüsste / hätte ich umsonst gelebt“den ersten Lockdown ein Stück weit erträglich­er gestaltete.

Tocotronic an diesem Abend vor besetzen Liegestühl­en auf dem Ehrenhof, im Hintergrun­d das NRW-Forum für Fotografie, Pop und digitale Kultur, zur Rechten der Band eine das Konzert betrachten­de Menschentr­aube auf den Stufen hinauf zur Tonhalle, all das würde sich zu einer schönen, in Sommerfarb­en getränkten Polaroid-Aufnahme fügen. Ganz, wie man es von den Cover-Gestaltung­en der frühen Tocotronic-CDs kennt. Ein Bild, mit dem gewiss auch von Lowtzow und Band an diesem Abend gut leben können, selbst wenn die Stimmung nicht ganz und gar überkochen wollte.

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Tocotronic spielten Songs, die sonst als klassische Zugaben galten.
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FOTOS (2): FOTOSCHIKO Die Zuschauer ließen sich vor allem zu Ende des Konzerts von der Musik mitreißen.

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