Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Der General Er zwingt der Musik nicht seinen Willen auf, sondern gleitet auf ihr gelassen wie auf einer venezianischen Gondel
Der italienische Dirigent Riccardo Muti wird 80 Jahre alt. Zu seinem Geburtstag ist eine großartige Box mit seinen sinfonischen Aufnahmen erschienen.
Neulich landete einer dieser Wunderkästen in der Wohnung, ein riesiges Sortiment von Glücksbringern, es war praktisch alles drin in dieser Box, was man auf Konzertpodien dirigieren kann, und wieder einmal sah man, was für ein riesiges Repertoire dieser Künstler besitzt. „The Complete Warner Symphonic Recordings“auf 91 CDs, das klingt wie ein Resümee des künstlerischen Lebens, und vermutlich ist es das auch: Der italienische Dirigent Riccardo Muti wird am Mittwoch, 28. Juli, 80 Jahre alt.
Trotzdem drängt es diesen Mann gerade jetzt, in der Pandemie, mit unerhörter Macht zurück an seinen angestammten Arbeitsplatz, er zählt zu denjenigen Dirigenten, die sich ohne Taktstock irgendwie amputiert fühlen. Immerhin hat er in den vergangenen Monaten sehr viel gelesen, doch nicht Dantes „Göttliche Komödie“, obwohl er nach dem Hingang gern in die Hölle möchte, wie er einmal launig erzählte. Nein,
Muti hat Beethoven gelesen, seine Partituren natürlich, und darin viele Kostbarkeiten und Köstlichkeiten gefunden, über die er, wie er neulich sagte, früher achtlos hinwegdirigiert habe.
Vielleicht ist dies ja der Grund, warum er bei seinem Jubiläumskonzert in der Mailänder Scala, zu dem die Wiener Philharmoniker eingeflogen wurden, die 4. Sinfonie d-Moll von Robert Schumann vor der Pause so ahnungsvoll langsam, ja fast bedächtig dirigierte. Muti wollte uns Hörer an seinem Glück teilhaben lassen, all diese herrlichen Fundstellen für unser Ohr in aller Ausführlichkeit ausbreiten, die es in dieser Musik gibt. Und immer mehr hatte man den Eindruck, dass dieses Strömen, dieses Fließen von Musik ihn mehr interessiert als alles andere. Er zwingt ihr nicht mehr seinen Willen auf, sondern gleitet auf ihr wie ein Gondoliere dahin, der dem Kahn stets eine achtsame, nicht zu ruckhafte Wendung gibt.
Diese Box ist nun wirklich ein Geschenk. Beethoven, Schubert,
Tschaikowski, Prokofieff, Mozart, Schumann, Verdi, Schostakowitsch, Cherubini, das waren und sind seine Hausgötter, mit denen Muti einen leidenschaftlichen, doch strengen und sehr präzisen Umgang pflegt. Tatsächlich, ein General ist er ohne Zweifel. Auch an den Rändern ist er gern unterwegs, etwa bei Skrjabin, Chausson und Chabrier. Mit Mahler kennt er sich nicht so gut aus, andererseits dirigiert er gern Händels „Wassermusik“. Es spielen die großen Orchester aus Berlin, Philadelphia, London, Mailand, München, Wien. Diese Box kündet von einem herrlichen Leben in der Welt der Töne.
Trotzdem hat der Autor dieser Zeilen sein unübertreffliches Muti-Erlebnis in der Oper gehabt. 1985 war es, bei den Salzburger Festspielen, es gab Mozarts „Così fan tutte“in einer Prachtbesetzung (Marshall, Murray, Battle, Araiza, Morris, Bruscantini), die schwer zu toppen war. Es herrschte eine herrlich unverkrampfte Spannung, Muti führte durch die Musik, doch er bewachte sie nicht. Sein Musizieren ließ gewähren, jeder Sänger durfte sich getragen, in seinem eigenen Atem begleitet fühlen, doch ahnte man, welche Genauigkeit in den Proben erarbeitet wurde.
Muti, der weltzugewandte, gleichwohl strenge Neapolitaner, hat immer erklärt, dass die Wiener Philharmoniker und das Chicago Symphony Orchestra seine beiden Lieblingsorchester sind. Das US-amerikanische Spitzenorchester spielte vor einigen Monaten unter Muti in der Kölner Philharmonie unter anderem Prokofieffs „Romeo und Julia“-Suite, von der ein bravouröser, fünf Jahre alter gemeinsamer Mitschnitt vorliegt. Abermals gab Muti nicht den Schauspieler, der dem Publikum beweisen will, wie fit und wendig er in höherem Alter noch ist, sondern machte durch Souveränität klar, dass die Geschichte um Romeo und Julia auch eine noble, adlige Seite hat und nicht vor Herzschmerz trieft.
Da es zum Markenzeichen großer Dirigenten zählt, dass sie mit 80 Jahren erst erkennen, was es in Musik noch alles zu entdecken gibt, können wir uns auf aktive, fidele, entdeckungsfreudige Jahre mit Muti freuen. Die idealen Orchester für seine Altersexpeditionen hat er an der Hand. Schöne Aussichten, auch für uns Hörer.