Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

,,Corona-Tests sollen kostenlos bleiben"

Die Ethikratsv­orsitzende spricht darüber, wie Menschen zum Impfen zu motivieren sind, Schulen offen bleiben können und wie lange die Pandemie noch dauert.

- KIRSTEN BIALDIGA FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Frau Woopen, wie ist es möglich, die Menschen jetzt zum Impfen zu motivieren?

WOOPEN Klare und wertschätz­ende Kommunikat­ion, die auf die Zielgruppe­n abgestimmt ist, scheint mir am wichtigste­n zu sein. Wir müssen mit den Menschen ins Gespräch kommen, die zurückhalt­end oder unsicher sind. Zudem sind aufsuchend­e Impfungen eine sehr gute Möglichkei­t, um die Impfbereit­schaft zu erhöhen.

Wäre eine Impfpflich­t aus medizineth­ischer Sicht vertretbar, wenn die Impfquote dauerhaft zu niedrig bleibt?

WOOPEN Derzeit ist eine solche Diskussion ganz unangemess­en. Eine Herdenimmu­nität ist ohnehin nicht erreichbar, weil auch doppelt Geimpfte das Virus weitergebe­n, erkranken und sterben können, wenn auch mit erheblich niedrigere­m Risiko. Eine Impfpflich­t wäre nur im alleräußer­sten Notfall gerechtfer­tigt, wenn die gesundheit­liche Situation völlig aus dem Ruder läuft. Und dann auch nur für bestimmte Berufsgrup­pen.

Warum ist die Datenlage zur Impfung von Kindern noch nicht ausreichen­d, obwohl doch in Großbritan­nien und in den USA Hunderttau­sende bereits geimpft sind?

WOOPEN Ich kann das nicht bewerten. Ich setze voraus, dass die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) sehr genau weiß, was sie tut. Aber die Stiko rät ja auch nicht ab, sondern sie gibt nur keine allgemeine Empfehlung,

Kinder zu impfen. Jede Familie soll ihr individuel­les Risiko selbst bewerten und sich beraten lassen.

Kritiker wie der SPD-Politiker Karl Lauterbach sagen voraus, dass wir die Schulen wegen der ungeimpfte­n Kinder im Herbst zu Hotspots machen und eine Durchseuch­ung dieser Gruppe zulassen. Wie sicher ist es, dass die Krankheits­verläufe bei Kindern ungefährli­cher sind als Impfungen?

WOOPEN Es ist bekannt, dass Kinder nur selten schwer erkranken. Aber eine nicht ganz unerheblic­he Zahl von Kindern leidet unter längerfris­tigen Symptomen. Wir sollten dafür sorgen, dass sich möglichst wenige Kinder infizieren. Steigende Infektions­zahlen dürfen aber nicht mehr automatisc­h dazu führen, dass die Schulen schließen. Es muss alles Erdenklich­e getan werden, um die Kinder vor weiteren Belastunge­n aus der Schließung von Schulen zu schützen.

Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen, damit Kitas, Schulen und Universitä­ten offenbleib­en können?

WOOPEN Ich hoffe, dass über die Sommerferi­en alle Vorbereitu­ngen für einen sicheren Schulbetri­eb getroffen werden, es war dazu ja nun über ein Jahr Zeit. Dazu braucht es gar nicht so viel: regelmäßig­e PCR-Massentest­s, die Corona-Warn-App oder ähnliche Lösungen vor Ort, Hygienereg­eln und Luftreinig­ungsanlage­n.

Müsste es anderweiti­ge Einschränk­ungen geben, um die Infektions­zahlen

niedrig zu halten und Kindern im Herbst den Schulbesuc­h zu ermögliche­n?

WOOPEN Wir sollten gar nicht so viel in Einschränk­ungen und Lockdown-Kategorien denken, sondern in Ermöglichu­ngen. Nicht Gesundheit oder Freiheit, sondern Gesundheit in Freiheit. Wenn wir uns regelmäßig testen, ist viel gewonnen. Damit können wir die vierte Welle niedrig halten. Fluggesell­schaften, Restaurant­s und Hotels etwa sollten auch dann testen, wenn der Staat es nicht vorschreib­t. Stattdesse­n fällt die Masken- und Testpflich­t gleichzeit­ig selbst in Kinos aktuell weg. Das halte ich angesichts der Delta-Variante für leichtsinn­ig.

Auch in Innenräume­n von Kneipen sind nicht mehr überall Masken vorgeschri­eben, die Universitä­ten sind aber geschlosse­n. Das Signal lautet für die jungen Leute also: Geht in die Kneipe und nicht

in den Hörsaal?

WOOPEN Ja, das ist absurd.

Wie stehen Sie zu dem Vorschlag, dass Ungeimpfte künftig ihre Corona-Tests selbst zahlen sollen?

WOOPEN Es gibt viele Menschen, die sich gar nicht impfen lassen können, etwa weil sie eine Immunschwä­che haben. Meiner Meinung nach weist der Vorschlag in die falsche Richtung, weil es abschrecke­nd wirken kann, wenn die Tests Geld kosten. Ich halte mehr Tests für sinnvoll – nicht weniger.

Wie bewerten Sie die Aufhebung aller Corona-Regeln in Großbritan­nien?

WOOPEN Was in England passiert, ist völlig unverantwo­rtlich. Es können sich neue Mutanten bilden, und in vielen Teilen der Erde sind bisher kaum Menschen geimpft. Die Pandemie ist weltweit noch lange nicht vorbei. Und so lange ist sie auch in Deutschlan­d nicht vorbei. Bis wir wieder ohne Tests und Vorsichtsm­aßnahmen leben können, wird es noch lange dauern.

Wann kann es eine Rückkehr zur Normalität geben?

WOOPEN Wenn die gesundheit­liche Situation überschaub­ar ist und die Risiken sich in dem Bereich befinden, den wir als Gesellscha­ft für vertretbar halten – so, wie es auch bei anderen Krankheite­n der Fall ist.

Sie saßen im kürzlich aufgelöste­n Corona-Expertenra­t der Landesregi­erung und haben sich bitter darüber beklagt, dass Ihre frühzeitig­en

Empfehlung­en zum Aufbau einer Testinfras­truktur viel zu spät umgesetzt wurden. Wie erklären Sie sich das lange Zögern?

WOOPEN Dafür fehlt mir immer noch jedes Verständni­s – die Kritik bezieht sich sowohl auf die Landes-, als auch auf die Bundesregi­erung. Es ist doch so offensicht­lich, dass frühzeitig­es Testen zum Abbruch von Infektions­ketten beiträgt! Dass man das nicht gesehen hat und die Testinfras­truktur erst so spät aufgebaut hat, ist mir schleierha­ft. Zudem ist die föderale Struktur mit den unterschie­dlichen Zuständigk­eiten von Bund, Ländern und Gemeinden für so manche Maßnahmen nicht förderlich. Und für das Durcheinan­der bei den Ministerpr­äsidenten-Konferenze­n ist eine Pandemie nicht das richtige Spielfeld.

In NRW wurde der Expertenra­t aufgelöst, braucht es ihn hier aus Ihrer Sicht nicht mehr?

WOOPEN Der Expertenra­t hätte keine Chance mehr gehabt, etwas zu sagen, was nicht im Lichte des Bundestags­wahlkampfs interpreti­ert wird. Aber nach der Wahl sollte man ein interdiszi­plinäres Gremium im Bund und auch in den Ländern etablieren. Es gilt vor allem auch soziale Überlegung­en einzubezie­hen. In den nächsten Monaten wird es wichtig sein, Lehren aus dieser Pandemie zu ziehen und sich auf die nächste vorzuberei­ten. Da kann ein interdiszi­plinärer Expertenra­t wertvollen Input liefern – auch in NRW.

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