Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
,,Corona-Tests sollen kostenlos bleiben"
Die Ethikratsvorsitzende spricht darüber, wie Menschen zum Impfen zu motivieren sind, Schulen offen bleiben können und wie lange die Pandemie noch dauert.
Frau Woopen, wie ist es möglich, die Menschen jetzt zum Impfen zu motivieren?
WOOPEN Klare und wertschätzende Kommunikation, die auf die Zielgruppen abgestimmt ist, scheint mir am wichtigsten zu sein. Wir müssen mit den Menschen ins Gespräch kommen, die zurückhaltend oder unsicher sind. Zudem sind aufsuchende Impfungen eine sehr gute Möglichkeit, um die Impfbereitschaft zu erhöhen.
Wäre eine Impfpflicht aus medizinethischer Sicht vertretbar, wenn die Impfquote dauerhaft zu niedrig bleibt?
WOOPEN Derzeit ist eine solche Diskussion ganz unangemessen. Eine Herdenimmunität ist ohnehin nicht erreichbar, weil auch doppelt Geimpfte das Virus weitergeben, erkranken und sterben können, wenn auch mit erheblich niedrigerem Risiko. Eine Impfpflicht wäre nur im alleräußersten Notfall gerechtfertigt, wenn die gesundheitliche Situation völlig aus dem Ruder läuft. Und dann auch nur für bestimmte Berufsgruppen.
Warum ist die Datenlage zur Impfung von Kindern noch nicht ausreichend, obwohl doch in Großbritannien und in den USA Hunderttausende bereits geimpft sind?
WOOPEN Ich kann das nicht bewerten. Ich setze voraus, dass die Ständige Impfkommission (Stiko) sehr genau weiß, was sie tut. Aber die Stiko rät ja auch nicht ab, sondern sie gibt nur keine allgemeine Empfehlung,
Kinder zu impfen. Jede Familie soll ihr individuelles Risiko selbst bewerten und sich beraten lassen.
Kritiker wie der SPD-Politiker Karl Lauterbach sagen voraus, dass wir die Schulen wegen der ungeimpften Kinder im Herbst zu Hotspots machen und eine Durchseuchung dieser Gruppe zulassen. Wie sicher ist es, dass die Krankheitsverläufe bei Kindern ungefährlicher sind als Impfungen?
WOOPEN Es ist bekannt, dass Kinder nur selten schwer erkranken. Aber eine nicht ganz unerhebliche Zahl von Kindern leidet unter längerfristigen Symptomen. Wir sollten dafür sorgen, dass sich möglichst wenige Kinder infizieren. Steigende Infektionszahlen dürfen aber nicht mehr automatisch dazu führen, dass die Schulen schließen. Es muss alles Erdenkliche getan werden, um die Kinder vor weiteren Belastungen aus der Schließung von Schulen zu schützen.
Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen, damit Kitas, Schulen und Universitäten offenbleiben können?
WOOPEN Ich hoffe, dass über die Sommerferien alle Vorbereitungen für einen sicheren Schulbetrieb getroffen werden, es war dazu ja nun über ein Jahr Zeit. Dazu braucht es gar nicht so viel: regelmäßige PCR-Massentests, die Corona-Warn-App oder ähnliche Lösungen vor Ort, Hygieneregeln und Luftreinigungsanlagen.
Müsste es anderweitige Einschränkungen geben, um die Infektionszahlen
niedrig zu halten und Kindern im Herbst den Schulbesuch zu ermöglichen?
WOOPEN Wir sollten gar nicht so viel in Einschränkungen und Lockdown-Kategorien denken, sondern in Ermöglichungen. Nicht Gesundheit oder Freiheit, sondern Gesundheit in Freiheit. Wenn wir uns regelmäßig testen, ist viel gewonnen. Damit können wir die vierte Welle niedrig halten. Fluggesellschaften, Restaurants und Hotels etwa sollten auch dann testen, wenn der Staat es nicht vorschreibt. Stattdessen fällt die Masken- und Testpflicht gleichzeitig selbst in Kinos aktuell weg. Das halte ich angesichts der Delta-Variante für leichtsinnig.
Auch in Innenräumen von Kneipen sind nicht mehr überall Masken vorgeschrieben, die Universitäten sind aber geschlossen. Das Signal lautet für die jungen Leute also: Geht in die Kneipe und nicht
in den Hörsaal?
WOOPEN Ja, das ist absurd.
Wie stehen Sie zu dem Vorschlag, dass Ungeimpfte künftig ihre Corona-Tests selbst zahlen sollen?
WOOPEN Es gibt viele Menschen, die sich gar nicht impfen lassen können, etwa weil sie eine Immunschwäche haben. Meiner Meinung nach weist der Vorschlag in die falsche Richtung, weil es abschreckend wirken kann, wenn die Tests Geld kosten. Ich halte mehr Tests für sinnvoll – nicht weniger.
Wie bewerten Sie die Aufhebung aller Corona-Regeln in Großbritannien?
WOOPEN Was in England passiert, ist völlig unverantwortlich. Es können sich neue Mutanten bilden, und in vielen Teilen der Erde sind bisher kaum Menschen geimpft. Die Pandemie ist weltweit noch lange nicht vorbei. Und so lange ist sie auch in Deutschland nicht vorbei. Bis wir wieder ohne Tests und Vorsichtsmaßnahmen leben können, wird es noch lange dauern.
Wann kann es eine Rückkehr zur Normalität geben?
WOOPEN Wenn die gesundheitliche Situation überschaubar ist und die Risiken sich in dem Bereich befinden, den wir als Gesellschaft für vertretbar halten – so, wie es auch bei anderen Krankheiten der Fall ist.
Sie saßen im kürzlich aufgelösten Corona-Expertenrat der Landesregierung und haben sich bitter darüber beklagt, dass Ihre frühzeitigen
Empfehlungen zum Aufbau einer Testinfrastruktur viel zu spät umgesetzt wurden. Wie erklären Sie sich das lange Zögern?
WOOPEN Dafür fehlt mir immer noch jedes Verständnis – die Kritik bezieht sich sowohl auf die Landes-, als auch auf die Bundesregierung. Es ist doch so offensichtlich, dass frühzeitiges Testen zum Abbruch von Infektionsketten beiträgt! Dass man das nicht gesehen hat und die Testinfrastruktur erst so spät aufgebaut hat, ist mir schleierhaft. Zudem ist die föderale Struktur mit den unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden für so manche Maßnahmen nicht förderlich. Und für das Durcheinander bei den Ministerpräsidenten-Konferenzen ist eine Pandemie nicht das richtige Spielfeld.
In NRW wurde der Expertenrat aufgelöst, braucht es ihn hier aus Ihrer Sicht nicht mehr?
WOOPEN Der Expertenrat hätte keine Chance mehr gehabt, etwas zu sagen, was nicht im Lichte des Bundestagswahlkampfs interpretiert wird. Aber nach der Wahl sollte man ein interdisziplinäres Gremium im Bund und auch in den Ländern etablieren. Es gilt vor allem auch soziale Überlegungen einzubeziehen. In den nächsten Monaten wird es wichtig sein, Lehren aus dieser Pandemie zu ziehen und sich auf die nächste vorzubereiten. Da kann ein interdisziplinärer Expertenrat wertvollen Input liefern – auch in NRW.