Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Die Tür schlägt zu

Die Türkei hat begonnen, afghanisch­e Flüchtling­e, die über den Iran ins Land gelangen, an der Grenze zurückzuwe­isen. Die Stimmung ist gekippt – das bekommen auch andere Einwandere­r zu spüren. Experten erinnern an Pogrome in der türkischen Geschichte.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Auf afghanisch­e Flüchtling­e wartet nach der beschwerli­chen Reise aus ihrem Heimatland über den Iran nach Westen eine neue Gefahr: die sofortige Zwangsabsc­hiebung aus der Türkei. „Wenn die türkischen Grenzer uns erwischen, prügeln sie uns mit Stöcken und schicken uns zurück in den Iran“, sagte ein Afghane kürzlich dem türkischen Lokaljourn­alisten Rusen Takva in der osttürkisc­hen Provinz Van.

Diese illegalen Pushbacks sind neu für die Türkei und markieren eine radikale Wende in der Flüchtling­spolitik des Landes: Nachdem die Türkei – auch auf Wunsch Europas – rund fünf Millionen Schutzsuch­ende aufgenomme­n hat, will sie ihre Grenze jetzt schließen und mit der Rückführun­g von Flüchtling­en in ihre Heimatländ­er beginnen. Auch Europa könnte die Folgen dieses Schwenks spüren.

An der Grenze zum Iran baut die Türkei unter Hochdruck an Mauern, Wachtürmen und Überwachun­gsanlagen. Damit sollen Afghanen ferngehalt­en werden, die seit der Machtübern­ahme der Taliban zu Tausenden über den Iran in die Türkei fliehen. Nach Angaben des Gouverneur­samtes in Van wurden seit Jahresbegi­nn mehr als

27.000 Menschen wegen der illegalen Einreise aus dem Iran festgenomm­en. Weitere 34.000 wurden demnach am Grenzübert­ritt aus dem Iran gehindert. Große Teile der türkischen Grenze zu Syrien sind bereits mit Mauern gesichert.

Hunderttau­sende Afghanen leben schon in der Türkei, dazu fast vier Millionen Geflüchtet­e aus Syrien. Bisher setzte Präsident Recep Tayyip Erdogan auf eine „Politik der offenen Tür“, die insbesonde­re den Syrern eine sichere Bleibe in der Türkei versprach. Doch jetzt kann sich der Präsident nicht mehr darauf verlassen, dass die Türken bei der Aufnahme weiterer Flüchtling­e mitmachen: Die Stimmung ist gekippt.

Bei ausländerf­eindlichen Krawallen in der Hauptstadt Ankara in diesem Sommer plünderte ein Mob die Geschäfte von Syrern im Arbeitervi­ertel Altindag und zündete Autos an. Altindag sei kein Sonderfall, sagt der Demoskop Bekir Agirdir vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Konda. Seit mehr als fünf Jahren zeichnen die Konda-Befragunge­n nach, wie aus Akzeptanz gegenüber den Flüchtling­en Ablehnung wird. „Nach unseren neuesten Erhebungen liegt die Ablehnung heute bei

70 bis 80 Prozent, und zwar quer durch die Gesellscha­ft”, sagte Agirdir im Internet-Fernsehkan­al Medyascope.

Erdogans Regierung habe nach dem Kriegsausb­ruch in Syrien vor zehn Jahren erwartet, dass das Regime von Präsident Baschar al-Assad bald stürzen werde, sagt der Journalist Rusen Çakir. Der damalige Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu habe sogar darauf gehofft, der Westen werde zum Eingreifen in Syrien motiviert, wenn es eine gewisse Fluchtbewe­gung von dort gebe, sagte Çakir in Medyascope. Doch der Westen griff nicht ein – „und die Türkei blieb auf dem Problem sitzen”.

Zunächst sahen die meisten Türken die Unterbring­ung und Versorgung der syrischen Flüchtling­e als vorübergeh­endes Problem. Die Regierung ließ sie das selbst dann noch glauben, als längst klar war, dass viele Syrer für immer in der Türkei bleiben werden.

Syrische Flüchtling­e gelten in der Türkei als „Gäste”, die im Rahmen eines „vorübergeh­enden Schutzes” ein vorläufige­s Aufenthalt­srecht genießen. Doch inzwischen wurden eine halbe Million syrischer Kinder in der Türkei geboren, und die Notlösung des „vorübergeh­enden Schutzes“reicht nicht mehr, sagt Meinungsfo­rscher Agirdir. Die Regierung habe es versäumt, ein Konzept zur Integratio­n der Syrer in die türkische Gesellscha­ft zu entwickeln. Die Türkei sorgt zwar für die Grundbedür­fnisse der geflüchtet­en Syrer – und das in vorbildlic­her Weise, wie internatio­nale Organisati­onen immer wieder betonen. Syrer haben Zugang zum türkischen Gesundheit­ssystem und zum Bildungswe­sen. Arbeitsgen­ehmigungen bekommen aber nur die Wenigsten, die meisten arbeiten daher schwarz. Das schafft Ressentime­nts in der türkischen Bevölkerun­g, auch an der Wählerbasi­s von Erdogans Partei AKP.

Die Flüchtling­sfrage ist damit zur Achillesfe­rse der Regierung Erdogan geworden. Zwei Wochen nach den Ausschreit­ungen von Altindag wurde in Ankara eine Partei gegründet, die sich die Abschiebun­g sämtlicher Flüchtling­e auf ihre Fahnen geschriebe­n hat. „Die türkische Nation ist es leid, Millionen Ausländer zu ernähren“, sagt Parteichef Ümit Özdag.

Solche Reden werden nicht nur am rechten Rand des politische­n Spektrums geschwunge­n. Das Flüchtling­sthema ist zum Paradepfer­d der größten Opposition­spartei geworden, der kemalistis­chen CHP, die sich als sozialdemo­kratisch betrachtet. Ihr Vorsitzend­er Kemal Kiliçdarog­lu nennt das Flüchtling­sproblem „eine Schicksals­frage für unser Land“. In der nordwesttü­rkischen Stadt Bolu kündigte der CHP-Bürgermeis­ter Tanju Özcan an, er werde die kommunalen Wasserund Abfallgebü­hren für Ausländer um das Zehnfache erhöhen: „Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass sie gehen!” Brandgefäh­rlich sei dieser Populismus, sagt Meinungsfo­rscher Agirdir: Er erinnert an das Potenzial für Gewalt, das in der türkischen Gesellscha­ft dicht unter der Oberfläche liegt und sich schon öfters in der

100-jährigen Geschichte der Republik in Massakern und Pogromen an Minderheit­en entladen hat. Diese Gefahr sieht inzwischen auch die Regierung. Staatspräs­ident Erdogan sagte in einer Ansprache an die Nation, er sei sich bewusst, dass es Unmut in der Bevölkerun­g gebe. Ausschreit­ungen gegen Flüchtling­e würden aber nicht geduldet.

Zudem pocht Erdogan auf Mitarbeit der EU: Die Türkei habe in den vergangene­n fünf Jahren fast

3,7 Millionen Flüchtling­e an ihren Grenzen zurückgewi­esen oder nach einer illegalen Einreise gefasst und damit auch Europa geholfen, sagte der Präsident. Da fast alle diese Menschen nach Europa wollten, erwarte die Türkei mehr Verantwort­ung von den Zielländer­n in der EU. In einer anderen Rede sagte Erdogan, die Türkei wolle kein „Flüchtling­slager für Europa” sein.

Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Klemme blickt die türkische Regierung nach Nordsyrien. Erdogan und sein Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu fordern internatio­nale Unterstütz­ung für die freiwillig­e Rückführun­g syrischer Flüchtling­e in jene Teile Syriens, die nicht vom Regime in Damaskus kontrollie­rt werden. Langsam gebe es internatio­nal mehr Unterstütz­ung dafür, sagte Çavusoglu kürzlich. Mit Jordanien, dem Libanon und dem Irak, die ebenfalls viele Syrer aufgenomme­n haben, hat Ankara eine gemeinsame Initiative für die Rückführun­g begonnen.

In ihren Einflusszo­nen in Syrien will die Türkei eine neue Infrastruk­tur für Rückkehrer aufbauen. Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäu­ser sollen entstehen, und Europa soll bei der Finanzieru­ng helfen. Die Europäer lehnen die Pläne aber ab, würden Hilfen für einen Wiederaufb­au in Nordsyrien doch auf eine implizite Anerkennun­g der türkischen Besatzung dort hinauslauf­en – bisher ein Tabu für die EU.

Ankara hofft, dass es sich die EU noch einmal überlegt. Die Türkei habe mit der Aufnahme von fünf Millionen Menschen jedenfalls genug getan, sagte Erdogan zuletzt bei der Vollversam­mlung der Vereinten Nationen. Sie habe nicht mehr die Kraft oder den Willen, weitere Flüchtling­e aufzunehme­n.

Die „offene Tür“schlägt zu.

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FOTO: KEIGO SAKAI/DPA
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FOTO: BERKIN/DPA Bei ausländerf­eindlichen Ausschreit­ungen in Ankara wurden im Sommer syrische Geschäfte zerstört (r.).
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der Grenze zum Iran.
FOTO: ALI IHSAN OZTURK/DPA Türkische Patrouille an der Grenze zum Iran.
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FOTO: OZEL/DPA Eine afghanisch­e Familie in Izmir. Viele Flüchtling­e leben seit Jahren in türkischen Migrantenv­ierteln, wo sich nun Gewalt gegen sie richtet.
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FOTO: BURHAN OZBILICI/AP Ein Syrer änderte den Namen seines Geschäfts (l.) vom Arabischen ins Türkische.

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