Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Einfrieren als Chance

SPD-Fraktionsc­hef Rolf Mützenich musste viel Kritik einstecken für seinen Vorschlag zum Ukraine-Krieg. Derzeit ist die Idee tatsächlic­h unrealisti­sch. Aber unter anderen Bedingunge­n könnte sie einen Ausweg bieten.

- VON MARTIN KESSLER

Eines muss man SPD-Fraktionsc­hef Rolf Mützenich lassen: Die von ihm angestoßen­e Überlegung, ob und wie man den Krieg in der Ukraine einfrieren und über lokale Waffenruhe­n und humanitäre Feuerpause­n zu einem vorläufige­n Ende der Gewalt kommen könnte, hat eine große Debatte ausgelöst. Damit ist es dem Sozialdemo­kraten gelungen, die Sprachlosi­gkeit in Bezug auf eine diplomatis­che Lösung zu überwinden. Aber ist der Vorschlag auch realistisc­h? Oder ist es „eher kindisch“, auf schnelle Verhandlun­gserfolge zu setzen, wie der Politikwis­senschaftl­er Alexander Libman von der Freien Universitä­t Berlin kritisiert? Wie könnte ein Szenario aussehen, in dem ein Einfrieren des Konflikts die Gewalt tatsächlic­h beendet? Das hängt auch von einer Analyse der derzeitige­n Lage und der Kräfteverh­ältnisse ab. Und da sieht es für Kremlchef Wladimir Putin nicht so schlecht aus.

Wer verfügt derzeit über die besseren Ressourcen?

Eine kühle Analyse der Kräfteverh­ältnisse auf dem Schlachtfe­ld muss den Willen zum Kampf und die Ressourcen für den Kampf vergleiche­n. Bei den Fähigkeite­n ist der Kreml klar im Vorteil. „Für einen langen Krieg hat Russland mehr potenziell­e Soldaten“, sagt der Geostrateg­e Libman, der als einer der führenden Russlandex­perten gilt. Wenn der Westen aus guten Gründen keine Bodentrupp­en einsetzen will, ist das Personalre­servoir der Ukraine deutlich dünner, auch wenn die gegenwärti­gen Armeen an der Front fast gleichwert­ig agieren. Auch in der Frage der Munition, dem derzeit wichtigste­n militärisc­hen Faktor, hat die Ukraine trotz westlicher Unterstütz­ung auf längere Sicht wenig Chancen. „Russland hat seinen militärisc­h-industriel­len Komplex besser umgestellt als der Westen“, sagt Libman. Die großen politische­n Schwierigk­eiten in Europa und den USA, stärker auf Rüstungspr­oduktion umzustelle­n, spielen dabei Putin in die Hände.

Der Vorteil der Ukraine liegt beim Willen. Es geht für sie um Selbstvert­eidigung, ums Überleben. Für die Experten der Rand Corporatio­n, der wichtigste­n militärisc­hen Denkfabrik der USA, ist dieser Faktor bei hinreichen­der Ausrüstung entscheide­nd. Wenn also der Westen seine Waffenlief­erungen steigert, hat die Ukraine eine echte Chance. Allerdings, so Libman, sei trotz aller „patriotisc­hen Begeisteru­ng“unklar, inwieweit die ukrainisch­e Bevölkerun­g die immensen Opfer weiter mitträgt.

Das alles trägt dazu bei, dass Putin sich derzeit von einer Fortsetzun­g des Krieges mehr erhoffen kann als die Ukraine. Der Kreml dürfte nach dieser Logik nicht auf eine Einfrier-Offerte eingehen. Zumal Putin jüngst genau das bereits ausgedrück­t hat: Wenn der Gegenseite die Munition ausgehe, wäre es ja sonderbar, an den Verhandlun­gstisch zu gehen, sagte er sinngemäß.

Was hätte die Ukraine vom Einfrieren?

Ihre Streitkräf­te sind erschöpft und weichen ganz langsam den russischen Verbänden. Selbst mit den Waffen der Alliierten gehen der Ukraine mittelfris­tig die Truppen aus. Und sie müssen mit russischen Eskalation­en rechnen, wenn Putin der Abnutzungs­krieg nicht ausreichen­d erfolgreic­h erscheint. Mützenichs Denkanstoß würde in diesem Fall der Stabilisie­rung des Frontverla­ufs dienen. Die Ukraine hätte dann zwar ein Fünftel ihres Staatsgebi­ets verloren, der Rest könnte aber durch Nato-Mitgliedsc­haft und Einbindung in die Europäisch­e Union besser geschützt werden.

Für die Menschen in den besetzten Gebieten wäre das schlimm. Denn die Menschenre­chtslage im Donbass und auf der Krim ist verheerend. Die russische Geheimpoli­zei hat hier freie Hand, es gibt so gut wie keine Opposition. Ähnlich wie in Tschetsche­nien ist die Repression dort größer als im Kerngebiet Russlands. Zudem wäre es ein Eingeständ­nis an Putin und eine Ermutigung, sich mit Waffengewa­lt fremdes Staatsgebi­et zu greifen.

Wie ginge es dann weiter?

Ein Einfrieren des Konflikts würde den Krieg nicht beenden. Ein Vorteil wäre lediglich, dass die Waffen für eine Zeit schweigen. Es kommt dann auf die Kriegsziel­e an. Wenn Putin daran festhält, dass die Eroberung der Ukraine oder ihre Zerschlagu­ng das einzige akzeptable Ergebnis ist, dann wäre wenig gewonnen. Denn er würde seinen Kurs mit hoher Wahrschein­lichkeit einfach später fortsetzen und könnte seine Truppen in der Zwischenze­it mit frischen Waffen und neuen Soldaten noch schlagkräf­tiger machen. Bleibt also Putin bei diesem Ziel, und davon ist auszugehen, muss die Ukraine weiterkämp­fen. Die Führung in Kiew würde dann überlegen, wem ein Waffenstil­lstand mehr hilft. Im Zweifel muss sie weiterkämp­fen und den Westen noch stärker unter Druck setzen, wirksame Waffen zu liefern. Wie es scheint, ist dies wohl die Einschätzu­ng in Kiew.

Sollte sich Putin dagegen mit einem gesichtswa­hrenden Ausstieg zufriedeng­eben, der ihm die Krim und den Donbass sichert, wäre das eine Grundlage für eine Verhandlun­gslösung. Hier würden die Konflikte um Zypern oder Korea Pate stehen. Allerdings hat der Koreakrieg 4,3 Millionen Menschen das Leben gekostet, ein Vielfaches der Opfer des Ukraine-Kriegs trotz aller dort verübten Grausamkei­ten und Leiden.

Das aber würde nur funktionie­ren, wenn Russland die Kosten des Krieges zu hoch werden. Aus Einsicht und Friedensli­ebe wird der Kreml nicht einlenken. Man kann davon ausgehen, dass Putin das Völkerrech­t und das Schicksal der Ukraine egal sind. Das verlangt vom Westen eine Position der Stärke: mehr Munition, mehr Luftabwehr­raketen, mehr Drohnen. Auch Marschflug­körper. Das könnte Putin auch vom Ziel abringen, die Ukraine zu vernichten, wenn eine Exitstrate­gie möglich ist.

Fazit Die Einfrier-Debatte ist nicht so unsinnig, wie sie sich zunächst anhört. Selbst wenn beide Parteien derzeit nicht bereit sind, auf militärisc­he Lösungen zu verzichten, so könnte es eines Tages der Fall sein, dass die Todfeinde unter Vermittlun­g Dritter in Verhandlun­gen eintreten. Ein Frieden entsteht nicht, wenn Freunde eine Lösung suchen, sondern Feinde. Dazu ist aber eine Politik der Stärke notwendig. Die vertritt übrigens auch Mützenich – er unterstütz­t die Waffenlief­erungen an die Ukraine.

Newspapers in German

Newspapers from Germany