Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Einfrieren als Chance
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich musste viel Kritik einstecken für seinen Vorschlag zum Ukraine-Krieg. Derzeit ist die Idee tatsächlich unrealistisch. Aber unter anderen Bedingungen könnte sie einen Ausweg bieten.
Eines muss man SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich lassen: Die von ihm angestoßene Überlegung, ob und wie man den Krieg in der Ukraine einfrieren und über lokale Waffenruhen und humanitäre Feuerpausen zu einem vorläufigen Ende der Gewalt kommen könnte, hat eine große Debatte ausgelöst. Damit ist es dem Sozialdemokraten gelungen, die Sprachlosigkeit in Bezug auf eine diplomatische Lösung zu überwinden. Aber ist der Vorschlag auch realistisch? Oder ist es „eher kindisch“, auf schnelle Verhandlungserfolge zu setzen, wie der Politikwissenschaftler Alexander Libman von der Freien Universität Berlin kritisiert? Wie könnte ein Szenario aussehen, in dem ein Einfrieren des Konflikts die Gewalt tatsächlich beendet? Das hängt auch von einer Analyse der derzeitigen Lage und der Kräfteverhältnisse ab. Und da sieht es für Kremlchef Wladimir Putin nicht so schlecht aus.
Wer verfügt derzeit über die besseren Ressourcen?
Eine kühle Analyse der Kräfteverhältnisse auf dem Schlachtfeld muss den Willen zum Kampf und die Ressourcen für den Kampf vergleichen. Bei den Fähigkeiten ist der Kreml klar im Vorteil. „Für einen langen Krieg hat Russland mehr potenzielle Soldaten“, sagt der Geostratege Libman, der als einer der führenden Russlandexperten gilt. Wenn der Westen aus guten Gründen keine Bodentruppen einsetzen will, ist das Personalreservoir der Ukraine deutlich dünner, auch wenn die gegenwärtigen Armeen an der Front fast gleichwertig agieren. Auch in der Frage der Munition, dem derzeit wichtigsten militärischen Faktor, hat die Ukraine trotz westlicher Unterstützung auf längere Sicht wenig Chancen. „Russland hat seinen militärisch-industriellen Komplex besser umgestellt als der Westen“, sagt Libman. Die großen politischen Schwierigkeiten in Europa und den USA, stärker auf Rüstungsproduktion umzustellen, spielen dabei Putin in die Hände.
Der Vorteil der Ukraine liegt beim Willen. Es geht für sie um Selbstverteidigung, ums Überleben. Für die Experten der Rand Corporation, der wichtigsten militärischen Denkfabrik der USA, ist dieser Faktor bei hinreichender Ausrüstung entscheidend. Wenn also der Westen seine Waffenlieferungen steigert, hat die Ukraine eine echte Chance. Allerdings, so Libman, sei trotz aller „patriotischen Begeisterung“unklar, inwieweit die ukrainische Bevölkerung die immensen Opfer weiter mitträgt.
Das alles trägt dazu bei, dass Putin sich derzeit von einer Fortsetzung des Krieges mehr erhoffen kann als die Ukraine. Der Kreml dürfte nach dieser Logik nicht auf eine Einfrier-Offerte eingehen. Zumal Putin jüngst genau das bereits ausgedrückt hat: Wenn der Gegenseite die Munition ausgehe, wäre es ja sonderbar, an den Verhandlungstisch zu gehen, sagte er sinngemäß.
Was hätte die Ukraine vom Einfrieren?
Ihre Streitkräfte sind erschöpft und weichen ganz langsam den russischen Verbänden. Selbst mit den Waffen der Alliierten gehen der Ukraine mittelfristig die Truppen aus. Und sie müssen mit russischen Eskalationen rechnen, wenn Putin der Abnutzungskrieg nicht ausreichend erfolgreich erscheint. Mützenichs Denkanstoß würde in diesem Fall der Stabilisierung des Frontverlaufs dienen. Die Ukraine hätte dann zwar ein Fünftel ihres Staatsgebiets verloren, der Rest könnte aber durch Nato-Mitgliedschaft und Einbindung in die Europäische Union besser geschützt werden.
Für die Menschen in den besetzten Gebieten wäre das schlimm. Denn die Menschenrechtslage im Donbass und auf der Krim ist verheerend. Die russische Geheimpolizei hat hier freie Hand, es gibt so gut wie keine Opposition. Ähnlich wie in Tschetschenien ist die Repression dort größer als im Kerngebiet Russlands. Zudem wäre es ein Eingeständnis an Putin und eine Ermutigung, sich mit Waffengewalt fremdes Staatsgebiet zu greifen.
Wie ginge es dann weiter?
Ein Einfrieren des Konflikts würde den Krieg nicht beenden. Ein Vorteil wäre lediglich, dass die Waffen für eine Zeit schweigen. Es kommt dann auf die Kriegsziele an. Wenn Putin daran festhält, dass die Eroberung der Ukraine oder ihre Zerschlagung das einzige akzeptable Ergebnis ist, dann wäre wenig gewonnen. Denn er würde seinen Kurs mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach später fortsetzen und könnte seine Truppen in der Zwischenzeit mit frischen Waffen und neuen Soldaten noch schlagkräftiger machen. Bleibt also Putin bei diesem Ziel, und davon ist auszugehen, muss die Ukraine weiterkämpfen. Die Führung in Kiew würde dann überlegen, wem ein Waffenstillstand mehr hilft. Im Zweifel muss sie weiterkämpfen und den Westen noch stärker unter Druck setzen, wirksame Waffen zu liefern. Wie es scheint, ist dies wohl die Einschätzung in Kiew.
Sollte sich Putin dagegen mit einem gesichtswahrenden Ausstieg zufriedengeben, der ihm die Krim und den Donbass sichert, wäre das eine Grundlage für eine Verhandlungslösung. Hier würden die Konflikte um Zypern oder Korea Pate stehen. Allerdings hat der Koreakrieg 4,3 Millionen Menschen das Leben gekostet, ein Vielfaches der Opfer des Ukraine-Kriegs trotz aller dort verübten Grausamkeiten und Leiden.
Das aber würde nur funktionieren, wenn Russland die Kosten des Krieges zu hoch werden. Aus Einsicht und Friedensliebe wird der Kreml nicht einlenken. Man kann davon ausgehen, dass Putin das Völkerrecht und das Schicksal der Ukraine egal sind. Das verlangt vom Westen eine Position der Stärke: mehr Munition, mehr Luftabwehrraketen, mehr Drohnen. Auch Marschflugkörper. Das könnte Putin auch vom Ziel abringen, die Ukraine zu vernichten, wenn eine Exitstrategie möglich ist.
Fazit Die Einfrier-Debatte ist nicht so unsinnig, wie sie sich zunächst anhört. Selbst wenn beide Parteien derzeit nicht bereit sind, auf militärische Lösungen zu verzichten, so könnte es eines Tages der Fall sein, dass die Todfeinde unter Vermittlung Dritter in Verhandlungen eintreten. Ein Frieden entsteht nicht, wenn Freunde eine Lösung suchen, sondern Feinde. Dazu ist aber eine Politik der Stärke notwendig. Die vertritt übrigens auch Mützenich – er unterstützt die Waffenlieferungen an die Ukraine.