Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Viele Beschlüsse, wenige Durchbrüche
Beim zweitägigen EU-Gipfel in Brüssel erzielen die Staats- und Regierungschefs vor allem Grundsatzeinigungen. Ein Überblick.
BRÜSSEL Es gab für die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten bei diesem Gipfel viel voranzubringen. Befürchteten einige hinter vorgehaltener Hand, das Treffen könne bis zum Samstagmorgen dauern, um die Tagesordnung zufriedenstellend abarbeiten zu können, fielen dann aber doch schon am Donnerstag vor Mitternacht die meisten Entscheidungen im Viertelstundentakt. Bereits am frühen Freitagnachmittag war der Gipfel beendet. Das hängt auch damit zusammen, dass beim Gipfel vorwiegend Grundsatzeinigungen angestrebt wurden; die konkrete Umsetzung haben nun andere Gremien zu übernehmen. Und was nach Durchbruch klingt, war gar nicht unbedingt einer.
Nahost Belgiens Regierungschef Alexander De Croo bezeichnete sich am Freitagmorgen als „sehr glücklich“. Seit Monaten dringt er mit anderen Ländern darauf, dass die EU geschlossen für einen sofortigen Waffenstillstand eintritt. Deutschland hat das mit anderen israelfreundlichen Staaten verhindert, um das Recht des jüdischen Staates auf Selbstverteidigung nicht zu beschneiden. Nun brachte Kanzler Olaf Scholz in den Neun-PunkteBeschluss die schärfste Verurteilung des Hamas-Terrors unter sowie die bedingungslose Freilassung aller Geiseln. Dafür war er bereit, sich der Forderung nach einer „sofortigen humanitären Pause“anzuschließen, die zu einem nachhaltigen Waffenstillstand, zur Geiselfreilassung und stark ausgeweitetem Zugang für humanitäre Hilfslieferungen führen soll. Die erste Festlegung aller 27 Staaten hielt aber nur eine Nacht. Dann erklärten vier von ihnen, dass das nicht ausreiche, um das Leid der Palästinenser zu beenden.
Bosnien So wie für die Ukraine am 1. Februar gibt es nun eine einstimmige Entscheidung, auch für Bosnien-Herzegowina die Beitrittsgespräche zu beginnen. Nach der Verleihung des Kandidatenstatus an das Balkanland Ende 2022 hat es damit die nächste Stufe auf dem Weg in die EU erreicht. Doch der ist noch lang. Ob und wann die Verhandlungen dann konkret beginnen, hängt von weiteren Reformfortschritten ab, über die die Kommission im Herbst einen neuen Zwischenbericht vorlegen soll. Der angestrebten EU-Erweiterung muss nach Überzeugung des Gipfels eine Reform der inneren Abläufe und Entscheidungsprozesse vorangehen. Aber dafür will sich die Runde im Frühsommer erst einmal einen zeitlichen Fahrplan zurechtlegen.
Ukraine Die Verurteilung des russischen Angriffskrieges verschärfte die EU und verbindet sie nun mit einer größeren Selbstverpflichtung. Sie will die Ukraine nicht nur unterstützen, solange es dauert, sondern auch so intensiv dies nötig ist. Der Gipfel würdigte die Ausweitung des Waffenbeschaffungsfonds um weitere fünf Milliarden Euro und unterstrich die Entscheidung, Waffen und Munition, die darüber abgerechnet werden, auch außerhalb der EU beschaffen zu können. Ein Vorstoß Estlands, für die Ukraine einen Mindestanteil des Bruttosozialprodukts aufzuwenden, schaffte es nicht ins Protokoll.
Vermögenserträge Mehrere Milliarden Euro jährlich sammeln sich derzeit auf Sperrkonten, weil sie von in der EU eingefrorenen russischen Vermögenswerten stammen. Das Vermögen selbst wollen die EU-Mitgliedstaaten, von einer Minderheit abgesehen, nicht abziehen, wohl aber die Erträge, auf die Russland keinen Anspruch habe. Scholz wollte als Richtung festlegen, dass sie in den Waffenankaufsfonds fließen. Neutrale Staaten und Ungarn wollten damit nur den Wiederaufbau der Ukraine finanziert sehen. Als Kompromiss wurde ein Vorschlag der Kommission (in dem die Verwendung für Munition und Waffen enthalten ist) nur allgemein zitiert und der Ministerrat ermutigt, an dem Thema weiterzuarbeiten.
Verteidigungsindustrie Das Bewusstsein, deutlich mehr in die Verteidigungsfähigkeit der EU investieren zu müssen, hat sich bei allen durchgesetzt. Vor allem mit Blick auf die unverhüllten Drohungen und entsprechende Geheimdienstberichte, dass ein russischer Angriff auf weitere Staaten in der EU immer wahrscheinlicher wird. Andererseits blickte der Gipfel dabei auf einen möglichen Präsidentenwechsel in den USA hin zu einem weniger verlässlichen Partner Donald Trump. Es geht um mehrere Hundert Milliarden Euro, die möglichst bald in zusätzliche Produktionskapazitäten gesteckt werden müssen. Mehrere Länder unter Führung Frankreichs wollen dafür neue EU-Schulden aufnehmen. „Wir sind nicht so Fans von diesen Ideen“, sagte Scholz dazu – und kann sich einstweilen zurücklehnen, da es auch dieser Punkt nicht in die Gipfelerklärung schaffte. Bis zu einem weiteren Gipfel soll ausgelotet werden, ob und wie die Europäische Investitionsbank künftig in Verteidigung investieren kann und soll.