Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Lesetipps aus Leipzig
„Woyzeck“in Jugendsprache, ein düsterer Thriller aus dem Norden und eine witzige Detektivgeschichte um Olaf Scholz – diese Titel von der Buchmesse sind zu empfehlen.
LEIPZIG Das kleine Mädchen am Egmont-Stand lässt sich einfach nicht abschütteln. Warum denn nicht der Asterix-Sonderband ausliege? Weil er nicht nach Leipzig mitgenommen wurde. Warum? Weil er nicht mehr auf den ohnehin übervollen Stand unterzubringen war. Warum? Weil es doch so viele neue Comics gibt. Warum, warum, warum? Spätestens jetzt ahnten alle Umstehenden, dass an diesem Tag dem kleinen Fan nicht zu helfen sein wird. Keine Frage, ein Sonderfall. Denn unter vielen Tausend Neuerscheinungen auf der Leipziger Buchmesse ist die Gefahr, literarisch zu ertrinken, viel größer. Sieben Bücher wollen wir darum fürs Erste empfehlen, allesamt persönlich und somit eine ultimative Leseaufforderung.
Die Ausgezeichnete Bitte lesen! Barbi Markovic ist eine Entdeckung, ein absolut unkonventionelles Lektüreerlebnis. Die in Wien lebende und schreibende Serbin hat mit „Minihorror“unsere Zeit, unseren Alltag mit all seinen Sorgen und Ängsten beschrieben, unsere verpatzten Urlaube, unseren Ärger am Arbeitsplatz. Hört sich nach schwerer Kost an. Das ist dieser urkomische, freche Hochgeschwindigkeitsroman aber nie. Die beiden Helden Mini und Miki spiegeln das Leben, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und dafür bekam der Roman zutiefst verdient jetzt auch den BelletristikPreis der Leipziger Buchmesse. Die größte Ehrung aber steht der 44-Jährigen noch bevor und ist ihr unbedingt zu wünschen: dass ihr Roman auch massenhaft gelesen wird.
Nicht flach Die Leipziger Buchmesse hat „Gastländer“– das sind die Niederlande und Flandern. Und im großen Teich vor der gläsernen Eingangshalle ist das Motto halb versenkt: „Alles außer flach“. Was die Autoren zu bieten haben, ist alles außer literarisch mittelmäßig. Mein Tipp: der Roman „Trophäe“der flämischen Erzählerin Gaea Schoeters. Das ist die unglaubliche Geschichte von Hunter, einem sogenannten steinreichen Amerikaner, der Afrika liebt, weil ihm der Kontinent genau das bietet, was einem Hunter so vorschwebt: Afrika als riesiges Jagdrevier, als ein endloser Vergnügungspark.
Jetzt kann er ein Nashorn schießen, das aber vereiteln Wilderer. Ein neuer, furchterregender Plan wird geschmiedet. „Trophäe“ist ein schonungsloses, schockierendes Buch in einer kraftvollen, stets selbstgewissen Sprache. Und so beginnt es: „Wie ein Raubvogel taucht das Flugzeug am tintenschwarzen Himmel auf, um danach abzubremsen, kurz scheinbar regungslos zu schweben…“
Schreibender Kommissar Gefühlt ist Jörg Hartmann überall auf der Messe. Der ein wenig unkonventionelle Tatort-Kommissar aus Dortmund – da nennt er sich Faber – steht in Leipzig vor jeder Kamera, sitzt an jedem Signiertisch und wird in jeder Halle gesichtet. Und das völlig zu Recht: Hartmann hat ein umwerfendes Buch geschrieben, das mit „Memoiren“viel zu klein bezeichnet ist. Denn in „Der Lärm des Lebens“erzählt er voller Zuneigung die spannende Geschichte seiner Großeltern und Eltern, singt ohne Pathos das Hohelied auf die Großfamilie und auf ein Leben im sogenannten Ruhrpott.
Fast ein Klassiker An der riesigen gelben Reclam-Wand komme ich an keiner Messe vorbei. Mag sein, dass dabei Erinnerungen an ferne Schulzeiten mit entsprechenden Pflichtlektüren wach werden. Wie auch immer: Diesmal fällt der Blick unter den Neuerscheinungen ausgerechnet auf Büchners Woyzeck, wobei das gelbe Cover aber wie mit einem dicken schwarzen EddingStift beschmiert zu sein scheint. Da, wo „Büchner“stehen sollte, ist der Name Asin Andkohiy vermerkt. Als Schülerin war die 18-Jährige im Deutschunterricht derart begeistert vom Drama, dass sie es kurzerhand umschrieb: in Jugendsprache. Den Text schickte sie dann einfach zum Reclam-Verlag – schließlich ist der für Klassiker einer der ersten Adressen hierzulande. Und dort war man so begeistert, dass man damit das machte, was man am besten kann: ein neues Reclamheft. Ein ziemlich wilder Text ist das geworden, für den Andkohiy sich bei Büchner (1813– 1837) ein wenig Beistand erhofft, schließlich sei ihm Authentizität so wichtig gewesen. Einige Jugendtheater sollen bereits ihr Interesse an dieser Fassung bekundet haben.
Ende einer Laufbahn Er hat es wieder getan – diesmal aber final: Der dänische Experte für skurrile Morde, Jussi Adler Olsen, hat mit „Verraten“ einen neuen Thriller um Ermittler Carl Mork aus dem Sonderdezernat Q geschrieben. Obwohl vieles uns erst einmal bekannt vorkommt, ist diesmal fast alles anders: Denn Mork sitzt im Knast und wird von der Öffentlichkeit verurteilt, sodass seine Kolleginnen und Kollegen alle Ermittlungskünste aufbringen müssen, um ihren Chef und unseren Thrillerhelden zu retten. Schließlich soll „Verraten“nach mehr als 15 Jahren und zehn Bänden der letzte Krimi aus dieser Reihe sein. Das Buch ist kein Abgesang, sondern ein Spannungshöhepunkt der gesamten Saga, die in 42 Ländern erschien und vielfach verfilmt wurde – und in der auch Rätsel von früher gelöst werden. „Ich bin sehr erleichtert. Es war eine lange Reise“, sagt Adler-Olsen.
Der Denker Schwere Kost ist dazu da, bekömmlich zubereitet zu werden. Und nichts anderes hat der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch getan, als er sich seiner intellektuellen Lieblingsspeise widmete: Jürgen Habermas, der als einer der weltweit einflussreichsten Philosophen gilt. Und dessen Werke eben nicht für jeden leicht zu begreifen sind. Weil aber möglichst viele den inzwischen 94-jährigen Denker lesen, verstehen und von ihm lernen sollten, hat Felsch leichtfüßig, souverän und kenntnisreich von Habermas und dessen Ideen ein lesenswertes, elegantes Buch geschrieben. Schwer zu sagen, was Habermas darüber denkt. Für die Leser aber ist es ein Geschenk.
Zum Schluss Kein Witz, es gibt ein ulkiges Buch über den Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich zur Eröffnung der diesjährigen Buchmesse erst einmal gegen ein paar notorische Zwischenrufer behaupten musste. Jetzt ist er schon eine literarische Figur im Kanzler-Krimi von Wolfgang Hofer geworden. Ein Motto gibt es auch – sehr frei nach Harry S. Truman: „Brauchst du einen Freund im politischen Berlin, dann schaff dir einen Hund an.“Wie es weitergeht? Am besten selber lesen. FOTOS (7): VERLAG