Hymnus der Menschlichkeit
Die Bilder gingen damals um die Welt und bleiben unvergessen: Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, reiste Mstislaw Rostropowitsch sofort nach Berlin, um dort am Checkpoint Charlie auf offener Straße Bachs Cellosuiten zu spielen – als Dank dafür, dass die Teilung Europas beendet war. „ Slava“, wie ihn seine Freunde liebevoll nannten, zählte zu den prominentesten Dissidenten der Sowjetunion und war schon früh eine Ikone seines Instruments, was ihn nicht davor bewahrte, Mitte der 1970er- Jahre in die Emigration gedrängt zu werden, wo er sich verstärkt dem Dirigieren zuwandte. 1990 wurde er rehabilitiert, blieb aber bis zu seinem Tod im Jahr 2007 auf Distanz zu allen Mächtigen. Zu seinem 90. Geburtstag hat Warner nun ein Highlight seiner umfangreichen Diskografie, nämlich die rein analoge EMI- Produktion des Cellokonzerts von Antonin Dvorák, die Rostropowitsch 1977 in London unter der Leitung von Carlo Maria Giulini einspielte, auf einem neu gemasterten und nunmehr großzügig auf zwei LPs geschnittenen Doppelalbum wieder herausgebracht, mit Spielzeiten von maximal 16 Minuten pro Seite. Das späte Cellokonzert Dvoraks, für viele in seiner dunklen Leidenschaft das Gipfelwerk der Gattung, zählte auch zu „ Slavas“Favoriten: Allein auf Schallplatten gibt es von ihm mindestens sieben Versionen, und vielleicht ist die vorletzte Einspielung des 50- jährigen Emigranten seine tiefgründigste. Sein ungemein sinnliches, lyrisch- strömendes, riesige Legato- Bögen ziehendes Cello- Spiel fand in dem späten, von Melancholie und Wehmut durchwirkten Konzert des tschechischen Spätromantikers geradezu eine ideale Vorlage, um seine eigene extreme Ausdruckskraft aufglühen zu lassen und es in einen schmerzlich- schönen Hymnus der Menschlichkeit zu verwandeln, ja in einen geradezu tragischen Monolog von überwältigender Intensität. Der damals 63 Jahre alte Giulini, der hier zum ersten Mal mit Rostropowitsch arbeitete, trägt dessen Seelenmonolog mit der Instinktsicherheit des erfahrenen Operndirigenten. Da Slavas Flugzeug Verspätung hatte und er das Konzert praktisch ohne Vorbereitung durchspielen musste, wirkt ihr leidenschaftlicher Diskurs wie aus einem Guss, ungemein kompakt und zugleich rhetorisch durchgeformt im typischen dunkeldichten EMI- Sound der späten 1970er Jahre. Nach dieser schweren Kost wirkt das erste Cellokonzert von Saint- Saëns fast wie ein leichtes französisches Dessert und zeigt den russischen Star- Cellisten von seiner virtuosen Seite: Aber auch hier ist die Freude nicht ungetrübt.