Brasilianer in Berlin
Neben Martha Argerich ist Nelson Freire der wohl bekannteste Klassik- Interpret Südamerikas. Mit fünf stand er bereits auf der Bühne, mit zwölf gewann er einen Preis beim Klavierwettbewerb in Rio, und als junger Mann eroberte er die Konzertsäle Europas, Nordamerikas und Asiens durch seine charismatische, energiegeladene Virtuosität. Man verglich ihn mit Horowitz, und seine frühen für Columbia produzierten Konzerte Tschaikowskys und Griegs wie auch der Totentanz von Liszt ( unter Rudolf Kempe) belegen eindringlich sein kraftvolles, punktgenaues, stets instinktsicheres Spiel, das durch seine tiefe Musikalität, seinen lyrischen Sog den Hörer sofort in Bann schlug. Vor einigen Jahren ist Freire auf die großen Podien der Welt zurückgekehrt. Bei Decca hat er mittlerweile acht Alben vorgelegt, die ihn als einen der führenden Interpreten des romantischen Repertoires, insbesondere Chopins und Schumanns ausweisen. Jetzt hat das Detmolder Label audite, das für seine historische Serie Rundfunkarchive auswertet, im RIAS- Katalog einen bislang unveröffentlichten Berliner Livemitschnitt Freires aus dem Jahr 1986 entdeckt, in dem er das bis heute unterschätzte zweite Klavierkonzert von Camille Saint- Saens mit vul- kanischer Energie auflädt und es als höchst originelles Meisterwerk der Gattung rehabilitiert, zu einer Zeit, als man es außerhalb Frankreichs kaum spielte. Dirigent Ádám Fischer und das RSO Berlin ließen sich damals förmlich mitreißen von der explosiven Vitalität und den rasenden Tempi des 41- jährigen Energiebündels Freire. Die auf eine riesige Beschleunigung hin angelegte Satzfolge des Konzerts ( Andante-Allegro- Presto) wird bei Freire zu einer halsbrecherischen, doch immer dramatisch und rhetorisch zwingenden Achterbahnfahrt entfesselter Virtuosität. Das bekannte Bonmot des Pianisten Edmund Stojowski, der einmal sagte, das Konzert beginne wie Bach und ende wie Offenbach, bewahrheitet sich hier in äußerst suggestiver Weise. Acht weitere Solotracks mit Lyrischen Stücken von Grieg, zwei Ungarischen Rhapsodien und der zweiten Polonaise von Liszt, die Freire 1966, mit 21 Jahren für den RIAS eingespielte, ergänzen ähnlich nachdrücklich das unwiderstehliche Charisma eines Ausnahme- Pianisten, der offenbar schon sehr früh sein künstlerisches Profil gefunden hatte, und der mittlerweile zu den wenigen weltweit geachteten „ elder statesmen“seines Instruments zählt.