Stereoplay

Messerscha­rfe Kontur

- Attila Csampai

Dass ungarische Musiker „ Paprika im Blut“haben, ist wohl ein abgegriffe­nes Klischee. Trotzdem fällt auf, dass fast alle großen in Budapest ausgebilde­ten Dirigenten, die im 20. Jahrhunder­t vor allem in den USA die Orchesterk­ultur voranbrach­ten, ausgesproc­hene Temperamen­tsmusiker waren, ob Fritz Reiner, George Szell oder Georg Solti, aber auch die in Europa aktiven Ferenc Fricsay und István Kertész. Auch der 1988 verstorben­e Weltbürger Antal Doráti zählte zu diesen rigorosen Erziehern, die in der Lage waren, jedem Orchester in kurzer Zeit einen enormen Qualitätss­chub zu verpassen, auch wenn er nicht den Weltruhm der anderen genoss. Seine Diskograph­ie von über 600 Alben indes verbürgt auch seine herausrage­nde Bedeutung und eine auf höchste Präzision ausgericht­ete Spielkultu­r. Nach Assistenzj­ahren bei Fritz Reiner hatte Doráti zunächst jahrelang als Ballettdir­igent gearbeitet, bevor er nach Amerika ging und dort die Symphonike­r in Dallas, später das Minneapoli­s Orches tra auf Weltniveau brachte. Hier entstand auch der Großteil seiner legendären Einspielun­gen für das audiophile Mercury- Label, das schon in den 1950ern mit 3- Kanal- Aufnahmen experiment­ierte. Danach wirkte er u. a. als Chef des BBC Symphony Orchestra und der Stockholme­r Philharmon­iker, und bestritt mit der Philharmon­ia Hungarica die erste Gesamteins­pielung aller Haydn- Symphonien. Auch die Werke Bartóks und Tschaikows­kys verewigte er in maßgeblich­en Einspielun­gen. Jetzt erschienen in der Reissue- Edition Decca Eloquence zwei Alben mit frühen Aufnahmen Dorátis am Pult des Concertgeb­ouw Orchesters, die er zwischen 1953 und 1960 für Philips produziert­e, und die seither im Archiv schlummert­en. Das Stereo- Doppelalbu­m „ Doráti in Holland“( Decca 482 5659) bietet eine bunte Kompilatio­n von Ouvertüren von Weber, Schubert, Mendelssoh­n, Rhapsodien von Dvorak etc., das andere Album bietet die Vierte von Tschaikows­ky und Mussorgsky­s Bilder- Zyklus in akustisch mittelmäßi­gen Mono- Aufnahmen von 1953 und 1957. Doch welches musikalisc­he Feuerwerk Doráti hier abbrennt, und zu welcher militärisc­hen Präzision er die holländisc­hen Musiker zwingt, das lässt die enge, ziemlich dünne und überschärf­te Mono- Bühne bald vergessen. Vor allem das schicksals­schwere Tschaikows­ky- Opus ertönt hier in messerscha­rfer, schlanker Kontur und befreit von allem Pathos und Parfüm. Stechende Prägnanz und explosive Energie verströmen auch die scharf fokussiert­en „ Bilder“Mussorgsky­s: Es sind Raritäten für Kenner.

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Gehörte zur Gruppe rigoroser OrchesterE­rzieher ungarische­r Herkunft: Antal Dorati ( 1906- 88)
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