Aufputschmittel in G- Dur
In der riesigen Diskographie von Bachs „ Goldberg- Variationen“, seinem unfangreichsten und bedeutendsten Beitrag zur Gattung, gibt es zwei unerschütterliche Referenzen. Sie entstanden 1955 und 1981, und beide stammen von Glenn Gould. Sie markieren den Anfang und das Ende seiner Karriere, und zugleich sind sie das Alpha und Omega seines Bach- Universums. Erst vor wenigen Wochen erschien eine umfangreiche Dokumentation der legendären ersten Aufnahme ( Sony 88843014882), die den damals unbekannten kanadischen Bach- Rebellen über Nacht weltberühmt machte, und die angestaubte Bach- Tradition in Europa mächtig erschütterte. Alle nachfolgenden Interpreten mussten und müssen sich bis heute sich daran messen lassen, so jetzt auch der 38- jährige Luxemburger Pianist Jean Muller, der bislang als exzellenter Interpret Beethovens und Chopins hervorgetreten ist. Sein letztes Chopin- Album aus dem Jahr 2010 wurde in ganz Europa von der Fachkritik gefeiert und Bryce Morrison attestierte ihm in Gramophone „ a savage technical voltage“. Bei den bereits 2015 eingespielten, aber erst jetzt bei Hännsler veröffentlichten „ Goldberg- Variationen“besteht Muller nicht nur den Gould- Vergleich glänzend, sondern brilliert mit einer der intelligentesten, zwingendsten, aufregendsten Deutungen des Zyklus, die in den letzten Jahren entstanden sind. Es ist die Transformation des Gouldschen Ansatzes ins 21. Jahrhundert. Auch Muller ist wie Gould in erster Linie ein Aufklärer, ein unbestechlicher Objektivist, der die Schönheit und die Logik des Bachschen Kontrapunkts, und die innere „ Vielstimmigkeit“des Zyklus klar und prägnant ausformuliert, und dabei immer geerdet bleibt. Was ihn von Gould unterscheidet, ist die Sinnlichkeit seiner Tongebung, und ein noch ausgeprägteres Arsenal an wechselnden Klangfarben, die er seinem hervorragend getunten Steinway D mit bestechender Anschlagskultur abtrotzt. Alles Konstruktive, alles polyphone Raffinement ist dabei choreographisch unterfüttert, und gewinnt natürlichen Lebenspuls durch die stets durchhörbaren Tanzcharaktere und Bewegungsmuster. Da Muller auf Wiederholungen weitgehend verzichtet, bekommt der Zyklus zusätzliche horizontale Schubkraft und Frische. So verströmen fast alle Variationen tiefen Optimismus und eine Heiterkeit, die befreit und wachrüttelt, und so erneut die unglaubliche Aktualität und Modernität Bachs hervorkehrt: Ein Album mit hohem Suchtfaktor und ein echter Muntermacher.