Erschütternder Abschied vom Leben
Unter den jüngeren Dirigenten ist Teodor Cur rentzis derzeit der mit Abstand aufregendste. In kurzer Zeit machte er das Opernhaus von Perm zu einem neuen Zentrum visionärer Theaterarbeit, und seine Studioproduktionen der drei Da- Ponte- Opern Mozarts wurden weltweit als neue Referenzen gefeiert. Jetzt hat er sich mit dem MusicAeterna Orchester, einer historisch orientierten, voll auf ihn eingeschworenen Truppe, gleich das größte Juwel russischer Sinfonik vorgenommen: Tschaikowskys genialische, von Todesahnungen durchwirkte Sechste Sinfonie, von der es unzählige gute Einspielungen gibt. Bis heute gilt die in einem trostlosen Adagio verklingende Sechste als Tschaikowskys eigenes „ Requiem“, da er nur einige Wochen später unter bis heute ungeklärten Umständen an Cholera verstarb. War es womöglich ein geplanter Suizid? Auch Currentzis' hochdramatische Interpretation unterstreicht vehement den bekenntnishaften Charakter des Werks. Dennoch schafft es der 45- jährige Musikrebell, dieses nationale Heiligtum komplett neu zu vermessen und ihm seine wahre erschütternde Größe zurückzugeben, in- dem er mit rigoroser Detailgenauigkeit und extremer Dynamik dessen wahre Seelenabgründe freilegt, jenseits von allem vordergründigen Pathos. Allein seine wunderbar pulsierende Pianound Pianissimokultur zu Beginn der Sinfonie ist beispiellos, und die Zusammenbrüche in der Durchführung entladen ein unerhörtes Verzweiflungspotenzial. Diese tiefe innere Tragik des Werks findet seinen bitteren Ausgang dann im düsteren Schluss- Adagio, das Currentzis als vergeblichen Todeskampf deutet: So deutlich, so bohrend- intensiv hat man den verebbenden Herzschlag in den Kontrabässen am Ende der Sinfonie wohl noch nie gehört. Nach diesem schonungslosen Selbstbekenntnis versteht jeder, warum Tschaikowsky nur wenige Tage nach der Uraufführung des Werks die Welt verließ.