Vom Strömen und Fließen
Das kalligraphieartige Bild auf dem Cover heißt „ Woge“, und „ Hýdor“ist das altgriechische Wort für Wasser. Damit ist die Richtung zur Interpretation von Rainer Böhms Klaviersoloplatte vorgegeben: Es geht ums Strömen und Fließen – aber nur scheinbar. Es sei denn, man gibt sich mit der Assoziation an einen Gedankenfluss, an das Strömen von Ideen zufrieden. Denn nur das Titelstück und dessen Reprise am Ende der Disc wecken tatsächlich die klangliche Erinnerung an Wasser, das – in „ Hýdor“– langsam dahinströmt und auf dessen Oberfläche in der Erstfassung Sonnenreflexe funkeln und in dessen dunklerer Reprise sich die Umgebung im Abendlicht spiegelt. Die übrigen elf Stücke sind anderen Themen gewidmet. So kosten „ Bass Study ( Part I)“und „ Bass Study ( Part II)“die Spannung zwischen den hellen und mittleren Lagen und den dunklen der linken stimmungsvoll aus. Dabei verlagert sich in der ersten Studie die melodische Dominanz schleichend von der rechten auf die linke Hand und wieder in den Normalzustand zurück. Die zweite Studie kontrastiert barockartige Bewegungen der Rechten mit impulsiven, jazzigmotorischen der Linken, als wolle Böhm klammheimlich die vor 60 Jahren geführte Diskussion über das Verhältnis von Jazz und Barockmusik interpretieren. Dabei beeindruckt, dass er sich zwar ein formales Thema stellt, dieses aber nie als solches in den Vordergrund gerückt ist. Kaum wahrnehmbar weht eine Samba durch den „ Brazilian Movie Song“. Seien es repetitive Figuren, die er „ Thumb Up, Broken Toe“und „ Bada Bada“unterlegt oder freudig aufsteigende in „ Catalyst“: Jeder der dreizehn Titel vermittelt ein einzigartiges Klangerlebnis. Dabei prägen Jazz und die Tradition von Klassik, Romantik und Impressionismus Böhms musikalischen Kosmos gleichermaßen. Das macht Rainer Böhm einzigartig und dokumentiert mit einem ungewöhlichen Album, dass er zu den führenden Stimmen des Jazzklaviers in Deutschland zählt.