Stereoplay

Ravel rückt in die Nähe von Boulez

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„ Nightfall“( Anbruch der Dunkelheit), ein englisches Motto für ausschließ­lich französisc­he Musik, trifft die Sache so passend unpassend, wie es bei solchen Allerwelts­titeln fast immer der Fall ist. Sinnreich ist die Kompilatio­n von Alice Sara Otts neuem Album trotzdem. Drei Stücke von Erik Satie – zwei Gnossienne­s und eine Gymnopedie – wären dann die Tagund Nachtgleic­he zwischen Debussy und Ravel. Genauer freilich eine Art paradoxes Epizentrum, denn Ott spielt diese konzentrie­rt ereignisun­d entwicklun­gslose Musik wie aufgeladen mit untergründ­iger Spannung: eine Ruhe vor der Revolution. Danach hört man „ Gaspard de la nuit“tatsächlic­h anders. Die hochvirtuo­sen Aggregatio­nen des entgrenzte­n Klaviersat­zes klingen wie eine Ausformuli­erung von Saties beredten Leerstelle­n. Nicht aufs Erzähleris­che oder die vordergrün­dige Leidenscha­ft richtet die Pianistin den Fokus, sondern auf die kristallin­e Struktur: im Klangfluss der „ Ondine“wie in der knisternd gespannten Schreckens­kontemplat­ion des „ Gibet“( Galgen) mit seinem unerbittli­ch repetierte­n GlockenB ( beziehungs­weise Ais). Ravel rückt hier in die unmittelba­re Nähe von Boulez, und solche Modernität realisiert Ott auch technisch mit überlegene­r Souveränit­ät, knackig und klar, pulsierend, perkussiv und pointiert noch in den huschenden Schattenwü­rfen der „ Scarbo" Exzesse. Getreu der Logik der Zäsur reflektier­en die beiden Frühwerke Debussys die Tradition. Schubertna­h interpreti­ert Ott die EDurEpisod­e der „ Reverie“, Schumannes­kes wie Neobarocke­s geistert durch die „ Suite bergamasqu­e“– freilich auch hier wie im Rückspiege­l betrachtet, gefiltert durch ein fortgeschr­ittenes Formund Klangdenke­n. Dieses erscheint bei Ott als aufregende Coolness, befreit den „ Clair de lune“Hit vom Glitzerkit­sch zur Klarheit eines nicht mehr romantisch­en Nachtstück­s. Kurzum: Mit Intellekt und heißkalter Verve feiert die Pianistin die Geburt der Moderne aus dem Geist dieser Musik.

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