Anarchie und Transzendenz
Es ist nach wie vor phänomenal, wie Charles Ives‘ vierte Sinfonie – entstanden zwischen 1910 bis 1925 – gleichsam in einem Quantensprung die Entwicklung bis hin zum Postserialismus vorwegnimmt: Cluster,vierteltöne, entfesselte Polymetrik samt Poly und Atonalität sind in diesem Schmelztiegel der Klänge die logische Konsequenz einer radikalen, „realpolyphonen“Collagetechnik. Die aber klebt nicht einfach Kirchenlieder, Marching Band und Folklore in possierlicher Beliebigkeit übereinander, sondern folgt einer bezwingenden sinfonischen Steigerungsdramaturgie, färbt das durcheinanderwimmelnde Material mit nuancierender Palette: koordiniert und doch so unkalkulierbar bunt wie das Leben. Als menschliche Komödie wollte Ives den zweiten, den irrwitzigsten Satz verstanden wissen. Und wenn da zu schmetternden Märschen und Ragtimerhythmen das Chaos sich zum orgiastischen Höhepunkt türmt, hält Michael Tilson Thomas (mit Codirigent Christian Reif) die vielstimmigen Fäden immer noch souverän in der Hand. Das schneidende Blech bindet er an jenes Maximum an Transparenz, das die Tontechnik und die fantastische San Francisco Symphony hergeben: die bislang beste, bis ins Detail durchformulierte Abbildung des Anarchistischen dieser Musik – und des Transzendentalen, Metaphysischen, Religiösen im Schlusssatz mit seiner kosmischen Entgrenzung von Klang und Form.
Dazwischen steht die (tonale) Fuge als Ruhe, aber nicht als Langweilerpol: in zügigem Tempo, ohne Salbung und falsches Pathos. Dankensweiterweise singt der orgelbegleitete SFSCHOR (der auch in den Choranteilen der Sinfonie überzeugt) zuvor einige der im sinfonischen Maelstrom identifizierbaren „American Hymns“; ebenso vor der weit zahmeren dritten Sinfonie (1901/04), die MTT keineswegs auf amerikanische Nationalromantik trimmt.vielmehr schärft ein neusachlichertonfall die harmonischen Ecken und Kanten:vorhall statt Rückspiegel.
SFS / Warner 821936-0074-2 (68:53)