Der Reiz des Alltäglichen
„Becoming” ist eine Netflix-dokumentation über Michelle Obama, die nicht auf ihrem autobiografischen Buch basiert, sondern die Ex-first Lady auf der Lesereise begleitet, mit der sie ihre Memoiren dem amerikanischen Publikum vorstellte. Dass Kamasi Washington den Soundtrack dafür liefert, zeigt den Stellenwert, den der kalifornische Saxofonist mittlerweile in den USA genießt. Denn in der Dokumentation geht es weiß Gott nicht nur um ein politisches Narrativ, sondern eher um ein Stück Normalität in einem Land, das in den letzten vier Jahren hauptsächlich mit der Unüberbrückbarkeit seiner Gegensätze
Schlagzeilen machte. Und so mag es angesichts seiner bisherigen Streiche, die vor allem das Epische und Hymnische im zeitgenössischen Jazz feierten, aufs erste Ohr vielleicht ein wenig enttäuschend sein, was Kamasi Washington auf diesem Album abliefert. Aber hier geht es eben nicht um ein großes Erklärungsepos. Koloss Washington geriert sich diesmal nicht als Black Moses, der sein Volk aus der musikalischen Diaspora herausführen will, sondern genügt sich in liebenswerter Alltäglichkeit, die mit sehr viel Charme und Empathie für den Gegenstand der Serie wie auch für den Hörer in Szene gesetzt wird. An der von ihm gewohnten Omnipotenz lässt er es trotzdem nicht mangeln. Die Musik ist voller Verweise auf den Sound der sechziger, siebziger und achtziger Jahre. Und mit üblichen Verdächtigen in der Band wie seinem Vater Ricky Washington an der Flöte, Pianist Cameron Graves, Bassist Miles Mosly oder Posaunist Ryan Porter schlägt er dann eben doch wieder den Bogen zu seinem eigenen Kanon, den er während der vergangenen Jahre gefestigt hat. „Becoming“ist somit ein unaufgeregter Spaziergang durch die Jahrzehnte, der gerade deshalb so stimmig ist, weil er mehr zum Flanieren als zum Verweilen einlädt. Wenn sich dieser Soundtrack am Ende auf ein gewinnendes Lächeln runterbrechen lässt, ist das mehr, als man von solch einem Unterfangen erwarten kann.
young turks / indigo (30:36)