Klarheit in der Klangkathedrale
Wie im Adagio der achten Sinfonie auch die Seitenkapellen der tönenden Kathedrale innig-präzis ausgeleuchtet werden, belegt einmal mehr die schiere Musikalität von Andris Nelsons‘ Bruckner-zyklus mit dem Gewandhausorchester. Dabei ist das Wort „Kathedrale“sehr wohl am Ort – nicht in Assoziation mit düster wabernden Weihrauchnebeln, sondern mit Licht und dessen vielfältigen Brechungen in einer großartigen, in ihren gewaltigen Spannungsbögen realisierten Klangarchitektur. Kurzum: Nelsons zelebriert in der Achten sehr wohl die eigentümliche Spiritualität, aber im heiligen Geiste einer obligaten Klar
heit, die sich nicht zum demonstrativen Strukturalismus umtaufen lassen muss. Für Transparenz bürgt Nelsons‘ feinsinnige musikalische Redlichkeit sowieso, ohne in der Detailarbeit die emotionalewärme und in der Fortissimo-glut die Noblesse zu verlieren. Blanke Kraftmeierei ist seine Sache nie, kleinlaut wiederum ist er noch nicht mal im dreifachen Piano. Sondern: klar konturierend und feingliedrig in der Zeichnung der Motive und ihrer Verflechtung, zu hören beispielsweise in der leisen Passage zu Beginn des zweiten Scherzo-abschnitts. Umgekehrt gilt das auch fürs markante Blech, das in goldglänzender Prägnanz auftrumpfen darf – nur eben nicht in hohlem Tätärätää.
Wie organisch Nelsons in den Live-aufnahmen die Musik mit gemäßigten, Raum und Zeit für Feinjustierung lassenden Tempi in Fluss bringt, beweisen die Generalpausen: kein bloßes Aufhören, sondern ein Hinüberatmen über die Stille dank der hohen Kunst stimmiger Phrasierung und Agogik im Verstummen und Wiederkehren des Klangs.
Und doch gilt der einzige Einwand (nebst einem etwas bräsigen „Meistersinger“-vorspiel) just der Agogik. Die Frage nach Tempo-stabilität und -Elastizität beantwortet Nelsons in der Achten allzu oft mit Rubati. Die geradezu klassizistischstraffe Gangart in der Zweiten überzeugt in diesem Punkt mehr.
dg 483 9834 (150:46, 2 Cds)