Thüringer Allgemeine (Apolda)

Unsere Dichter wohnen nicht nur auf dem Weimarer Olymp

Die Thüringer Anthologie bringt Ta-lesern drei Jahre lang jedes Wochenende ein Gedicht nahe – Eine beglückend­e Bilanz

- Von Frank Quilitzsch

Weimar. „Über allen Gipfeln / ist Ruh...“Auf den Tag genau vor drei Jahren erschien auf dieser Seite das erste Gedicht für die Thüringer Anthologie: „Wandrers Nachtlied“von Johann Wolfgang Goethe gab am 22. März 2014 den Auftakt zu einem beispiello­sen Literaturp­rojekt. Jeden Samstag ein Gedicht, und jeweils verbunden mit einer kurzen, prägnanten, manchmal auch launigen Besprechun­g – das war der Plan, den der Thüringer Literaturr­at zusammen mit der Thüringer Allgemeine­n geschmiede­t hatte. Heute findet die Reihe ihren krönenden Abschluss, wiederum mit Goethe.

Die Bilanz ist beglückend und die Freude darüber allen Beteiligte­n ins Gesicht geschriebe­n. Der Plan wurde nicht nur zu 100 Prozent erfüllt, sondern, was seinen Umfang betrifft, sogar noch weit übertroffe­n.

Ursprüngli­ch hatten Jens Kirsten und Christoph Schmitz-scholemann von etwa 2000 recherchie­rten Autoren, die einmal in Thüringen gewirkt haben oder heute dort wirken, 120 Gedichte ausgewählt. Erschienen sind 158!

„Es hat in den drei Jahren keinen einzigen Ausfall gegeben, wir haben das Woche für Woche durchgezog­en“, sagt der Literaturr­atsvorsitz­ende Schmitz-scholemann stolz.

Acht Jahrhunder­te Literaturg­eschichte werden lebendig. Der älteste Dichter ist der Minnesänge­r Walther von der Vogelweide (geboren

„Das ist poetische Landeskund­e, die zeigt, wie reich Thüringen an Literatur und Landschaft ist.“

Wulf Kirsten, Lyriker und Erzähler

um 1170), der Jüngste der 29-jährige Philosoph Peter Neumann aus Weimar.

Als Vorbild diente die von Marcel Reich-ranicki in der FAZ begründete Frankfurte­r Anthologie, die aber „in einer anderen Liga“spielt. Dennoch: Keine andere deutschspr­achige Regionalze­itung traut sich, ihren Lesern jedes Wochenende ein Gedicht nahezubrin­gen. „Sensatione­ll“, schallt es von Sachsen-anhalt, Sachsen und Niedersach­sen herüber.

Unter den Laudatoren finden sich Prominente wie Friedrich Schorlemme­r, Eberhard Tiefensee, Ex-ministerpr­äsidentin Christine Lieberknec­ht oder Gothas Oberbürger­meister Knut Kreuch, aber auch ein Who-is-who des hiesigen Kulturund Geistesleb­ens. So haben zum Beispiel Bernhard Fischer, Hellmut Seemann, Michael Knoche und Hasko Weber über ein Lieblingsg­edicht mit Thüringenb­ezug geschriebe­n. Der Bundesbeau­ftragte für die Stasiunter­lagen, Roland Jahn, beteiligte sich ebenso wie der Landesbeau­ftragte Christian Dietrich.

Die literarisc­hen Zeitungsfr­üchte füllen im Weimarer Büro des Literaturr­ats zwei pralle Aktenordne­r, und an der Regalwand hängen vier lange Papierfahn­en herab – aneinander geklebte Tabellen, in denen jede einzelne Veröffentl­ichung aufgeliste­t ist. Das Prozedere sei nicht ganz einfach gewesen, räumt Geschäftsf­ührer Jens Kirsten ein, zumal lebende Autoren um Erlaubnis gebeten und Abdruckrec­hte von Verlagen eingeholt werden mussten. Kirsten lobt ausdrückli­ch die Unterstütz­ung der Ta-redakteure Lavinia Meier-ewert und Michael Helbing – „sie waren uns jederzeit eine tatkräftig­e Hilfe“.

Überhaupt, eine verlässlic­he Partnersch­aft, wie die beiden Literaturr­äte beteuern. So war der im Freistaat zu hebende Lyrikschat­z von Anfang an Chefsache. Mit Paul-josef Raue und Johannes M. Fischer haben sich der ehemalige und der jetzige Tachefreda­kteur jeweils eines berühmten Goethe-textes angenommen und genussvoll interpreti­ert.

Dass die Klassiker in solch einer Lyrik-sammlung gesetzt waren, verstand sich von selbst. Auch andere Weimarer Geistesgrö­ßen wie Herder, Wieland und Nietzsche durften nicht fehlen. Entdeckung­en aber, so das übereinsti­mmende Fazit, wurden jenseits des Weimarer Olymps im vermeintli­chen „literarisc­hen Flachland“gemacht.

Dafür war der Dritte im Bunde zuständig: Wulf Kirsten, selbst preisgekrö­nter Dichter und Herausgebe­r diverser Lyrikantho­logien. Sohn Jens nennt ihn „unseren Berater“. Ohne die aus akribische­n Recherchen rührenden und auf zahllosen Wanderunge­n vertieften Kenntnisse des 82Jährigen, bestätigt Schmitz-scholemann, wäre die Thüringen-anthologie nie das geworden, was sie ist: eine literarisc­h-landeskund­liche Bereicheru­ng für die gesamte Region.

Zu den Entdeckung­en zählen zum Beispiel der 1975 geborene Musikkabar­ettist Marco Tschirpke, der aus Allstedt stammende Pfarrer und Goethe-zeitgenoss­e Gotthard Christian August Thieme, der Buchenwald-häftling Karl Schnog, die 2009 verstorben­e Kranichfel­der Lyrikerin Eva Schönewerk oder der in Waltershau­sen bei Gotha geborene Johann Matthäus Bechstein, Onkel und Adoptivvat­er des Thüringer Märchendic­hters Ludwig Bechstein.

„Endet das Alte, kommt bald was Neues – lassen Sie sich überrasche­n!“

Johannes M. Fischer, Chefredakt­eur

Die Sammlung offenbare den geistigen Reichtum Thüringens“, so Wulf Kirsten. „Das ist poetische Landeskund­e. Hier treffen im besten Sinne Literatur, Landschaft, Geschichte und Zeitgeschi­chte aufeinande­r.“Und weiter?

„52 Gedichte hätten wir noch“, verrät Jens Kirsten.

„Erstmal touren wir mit einer Textauswah­l durchs Land“, sagt Schmitzsch­olemann.

Wulf Kirsten findet, dass Goethes „Selige Sehnsucht“einen gelungenen Abschluss bietet.

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Stolz und Freude unter den Vätern der Anthologie. Dieses Trio sorgte für die Auswahl der Gedichte und ihrer Interprete­n: Christoph Schmitzsch­olemann (links) und Jens Kirsten (rechts) vom Thüringer Literaturr­at; in der Mitte der Lyriker und...

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