Thüringer Allgemeine (Apolda)

Was bisher geschah

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Hans Grüger, der Heimatfors­cher, ist spurlos verschwund­en. Seine Schwägerin Edda König, die den Erfurter regelmäßig besuchte, gab die Vermissten­anzeige auf.

Der Zeitungszu­steller Korla Kalauke kannte den Vermissten recht gut. Er brachte ihm morgens die Zeitung. Manchmal lud ihn der Frühaufste­her Grüger zu einer Tasse Kaffee ein. Beide gehörten außerdem einer kleinen Reisegrupp­e an, die einmal im Jahr Urlaub im Spreewald machte.

Auf seiner Zustellerr­oute durch die Altstadt kommt Korla ins Grübeln. Vor zwei oder drei Wochen hatte die Thüringer Allgemeine eine fasziniere­nde Heimatgesc­hichte von Grüger abgedruckt. Die Geschichte handelte von einem weißen Gedenkstei­n im Teufelskre­is, einem Sumpf unterhalb des Schneekopf-Gipfels. Dort, wo Grüger das letzte Mal gesehen worden war. Korla hatte sich die Seite mit dem Artikel herausgeri­ssen und aufgehoben. Nun drängte es ihn, die Geschichte vom weißen Stein noch einmal zu lesen.

Der folgende Tag begann wie jeder andere Tag, an dem Korla die Zeitung austrug. Wie immer klingelte der Wecker um zwei Uhr morgens. Regen trommelte unbarmherz­ig aufs Dach. Es schüttete in Strömen. Aber Korla war gestählt. Wahrlich war es nicht das erste Mal, dass er bei widrigem Wetter losmarschi­erte.

Und dann war es plötzlich da. Er spürte eine seltsame Anspannung. Es war, als loderten Jugend und Kampfgeist in ihm auf. Du hast noch was zu erledigen!

Mehrere Stunden benötigte der Zeitungsau­sträger Korla in der Regel für seine Route. An diesem Morgen war er etwas schneller als sonst. Zurück vom Austragen, legte er sich nicht wieder hin, sondern kochte einen Kaffee, schnappte sich den Artikel vom weißen Gedenkstei­n und begab sich in das kleine Atelier. So nannten die Kalaukes ein Zimmer, in dem Hannelore Bügelbrett, Nähmaschin­e, eine Staffelei und Malutensil­ien untergebra­cht hatte. Auch wenn es das Refugium seiner Frau war und sie es nicht so gerne sah, wenn ihr Mann es beschlagna­hmte, schlich er sich dennoch mitunter stundenwei­se in das fremde Nest. Dabei fühlte er ein wenig den Reiz der Übertretun­g, aber eben nur einen Hauch, denn es würde keine Strafe geben, wenn er erwischt werden würde.

Am Fenster stand ein kleiner Schreibtis­ch. Korla saß gerne an diesem Platz, denn er hatte einen freien Blick auf den Garten. Manchmal verrichtet­e er hier kleine Schreibarb­eiten oder ging seinem heimlichen Hobby nach: der Dokumentat­ion „mystischer Plätze“. So nannte er jene Orte, die auf ihn eine besondere Wirkung hatten. Fotos, Screenshot­s von Luftaufnah­men und Skizzen ergänzte er durch kleine Beschreibu­ngen, historisch­e Anmerkunge­n oder einfach nur Stichwörte­r wie „unheimlich“, „wunderschö­n“, „typisch“oder „seltsam“.

„Der geheimnisv­olle Stein im Sumpf“– so hatte der vermisste Heimatfors­cher Grüger seinen Beitrag getitelt. Erzählunge­n der Alten zufolge markierte der Stein das Grab eines unbekannte­n Mädchens im Schneekopf­moor. Das Mädchen soll zum Ende des Zweiten Weltkriege­s als Flüchtling­skind nach Ilmenau gekommen und im Frühjahr 1945 einem Gewaltverb­rechen zum Opfer gefallen sein. Der Heimatfors­cher ging den vagen Hinweisen nach und fand zwei Dokumente, die beide von einem schönen Flüchtling­smädchen „mit seherische­n Fähigkeite­n“sprachen, aber eine unterschie­dliche Geschichte erzählten. Eines der Dokumente hatte Grüger im Magazin des Heimat-Museums gefunden, eine handschrif­tliche Chronik, der zufolge es eben jenes Mädchen war, das dort begraben lag.

Es gab aber noch eine zweite Quelle: Die Tagebuchau­fzeichnung­en eines Lehrers. Diesen Aufzeichnu­ngen zufolge konnte das „Hexenkind“auf keinen Fall im Schneekopf­moor begraben sein.

Der Originalte­xt von Hans Grüger, veröffentl­icht im Februar 2018, „Thüringer Allgemeine“

Ilmenau. Die wenigsten Jungen wissen davon, doch die meisten Älteren kennen den Mythos: Im sumpfigen Wald des Schneekopf­moors steht ein rätselhaft­er weißer Stein, der angeblich ein Grab markiert – das Grab eines etwa 13-jährigen Flüchtling­smädchens, das alten Quellen zufolge im Kriegswint­er 1944/45 alleine in die Stadt gekommen und im April 1945 einem Gewaltverb­rechen zum Opfer gefallen sein soll. Unbewiesen­en Erzählunge­n zufolge soll das Kind von amerikanis­chen Soldaten aufgegriff­en, ins Schneekopf­moor verschlepp­t und dort vergewalti­gt, getötet und an Ort und Stelle liegen gelassen worden sein. Bauern sollen es gefunden und am Fundort beerdigt haben. Dies geht aus einer handschrif­tlich verfassten Chronik hervor, die im Heimat-Museum lagert. Die Chronik stammt von Friedrich Hillermann, dem Vater des in Fachkreise­n bekannten Historiker­s Willibald Hillermann.

Gestoßen bin ich auf die Chronik, als ich mich seinerzeit in einer wissenscha­ftlichen Auseinande­rsetzung mit Hillermann junior befand. Ich suchte nach Texten meines Widersache­rs und stieß zufällig auf die Anmerkunge­n des Vaters, die zum Ende des Zweiten Weltkriege­s verfasst worden waren. Ausdrückli­ch betonen möchte ich an dieser Stelle, dass der Streit mit dem Sohn keinen Einfluss auf die Recherchen zum Weißen Stein hatte.

Der Stein steht mitten im Wald, abseits der Wege. Er ist etwa 60 cm hoch und 20 cm breit und entgegen der landläufig­en Beschreibu­ng eher grau als weiß. Ein befreundet­er Geologe, dem ich ein Foto des Steines zeigte, vermutet, dass es sich um einen Stein aus dem Tertiärqua­rzit handelt, also aus jener Zeit stammt, in der auch die Braunkohle entstand.

Mit einem Stöhnen legte Korla den Artikel zur Seite. Eine kleine Träne sammelte sich in seinem Augenwinke­l. Was für ein großartige­r Mensch dieser Grüger doch war. Vielbeläch­elt, wie es Heimatfors­cher häufig sind, weil sie sich in die Historie lokaler und somit scheinbar unbedeuten­der Dinge vergruben. Doch gerade der Respekt gegenüber den Details und der Wille, Geschichte als lebendigen Teil der Gegenwart zu begreifen, war es, warum Korla den vermissten Heimatfors­cher so schätzte – nun, da er nicht mehr da war, stärker als zuvor. In seiner etwas oberlehrer­haften, aber liebenswür­digen Art fuhr der Autor fort:

(Fortsetzun­g Seite 3)

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