Die schnellste Frau der Welt
Heute feiert die Olympiasiegerin, Welt- und Europameisterin, die Jenaerin Marlies Göhr ihren 60. Geburtstag
Jena.
Das Leben, es ist ein Kreis. „In der Straße in Gera, wo ich geboren bin, geht nun meine Enkelin in den Kindergarten“, sagt Marlies Göhr und lacht. Die kleine Ida ist drei Jahre alt – und vor allem heute ein klein wenig aufgeregter als sonst. Denn die stolze Oma, einst die schnellste Frau der Welt, feiert heute ihren 60. Geburtstag. Ohne großes Federlesen, wie sie sagt. „Ich bin nicht mal in Jena. Wenn es etwas wärmer ist, gibt‘s eine kleine Feier im kleinen Kreis“, sagt Göhr. So richtig anfreunden kann sie sich mit dieser „60“eben noch nicht.
In Gera geboren, in Triptis aufgewachsen, führte sie ihr Weg schnell nach Jena. Am Ende standen 17 Jahre Leistungssport; 13 davon im Nationaltrikot der DDR. Dreimal lief sie Weltrekord, mit der Staffel gar neunmal. Als erste Frau überhaupt knackte sie über die 100-m-Distanz die elf Sekunden. Bis heute sind die 10,88 Sekunden vom 1. Juli 1977 in Dresden Weltrekord bei den Junioren. „Insgesamt bin ich 38 Mal unter elf Sekunden gelaufen“, sagt sie. Zwei Olympische Goldmedaillen, zwei Welt- und je fünf Europameistertitel im Freien und in der Halle hat sie gefeiert. Dabei wäre noch viel mehr drin gewesen – 1984 war nämlich ihr stärkstes Jahr, was sie mit einer Fabelzeit von 10,84 Sekunden bei einem Wettkampf in Erfurt unter Beweis stellte. „Und dann bekamen wir ein paar Wochen vor den Spielen von Los Angeles in Jena Besuch – man teilte uns mit, dass die DDR die Spiele boykottiere“, erzählt sie. Ja, keine Frage, sie trauere dem bis heute etwas nach.
Und, klar, bemerkt Göhr, man habe diesen Sport eben auch so nachdrücklich gemacht, „um mal rauszukommen“, erklärt sie. Auf allen Kontinenten sei sie gelaufen – mit einer Ausnahme: „Ich war noch nie in Südamerika. Brasilien reizt mich nicht, aber vielleicht fliegen wir mal nach Chile“, sagt sie. Vom damaligen Tagegeld, sieben Mark West, seien auch nicht viele Mitbringsel möglich gewesen. Als der Tag des Rücktritts kam, die Karriere vorbei war, „wurde mir erst bewusst, dass ich jetzt bis zur Rente aus dem Staat nicht mehr in den Westen komme“, erzählt sie. Quasi bis heute nicht. „Ich glaube nicht, dass ich das durchgehalten hätte.“Der Tag des Mauerfalls sei für sie sowieso ein ganz besonderer – pünktlich zum 9. November 1989 kam Töchterchen Nadja zur Welt. „Eigentlich viel zu früh, der Termin war im Dezember“, erzählt Göhr. Professor Günther Stein, der Klinikchef von Jena, sei irgendwann ins Zimmer gekommen und habe erzählt, dass die Mauer gefallen sei. In diesem doch surrealen Moment habe sie nur erwidert, dass er Patenonkel für Nadja würde, wenn dies stimme. „Also wurde er Patenonkel“, sagt Göhr und lacht.
Als Psychologin arbeitet sie heute für das Saale-Betreuungswerk der Lebenshilfe – und engagiert sich ehrenamtlich im Vorstand des LC Jena. „Dort merke ich, wie schwierig es ist, Sponsoren für die Leichtathletik zu begeistern“, sagt sie. Es sei ein Glücksfall, dass Thomas Röhler weiter in Jena ist. „Aktuell haben wir nur zwei deutsche Olympiasieger. Einer kommt aus Jena“, sagt Göhr. Das allein aber überzeuge niemanden, die Schatulle zu öffnen. Es bräuchte eine breitere Basis erfolgreicher Athleten, dazu auch ein Stadion und nicht eine bloße Trainingsanlage. Der Nachwuchs im Verein mache ihr Hoffnung – allerdings würden die meisten dann im Erwachsenenbereich andernorts weitermachen. „Die Leichtathletik lebt von erfolgreichen Sportlern, wird so attraktiv“, sagt sie. Ihren Teil möchte sie auch heutzutage dazu beitragen, helfen, dass die glorreichen Tage von einst nicht vergessen, dass neue Heldentaten möglich sind.
Und wer weiß, vielleicht flitzt in ein paar Jahren die junge Ida Göhr über die Laufbahnen dieser Welt. Auch die ist ein Kreis. Ganz wie das Leben selbst.