Thüringer Allgemeine (Apolda)

Verpasste Chance auf mehr Selbstbest­immung

Warum fünf Jahre nach seiner Einführung viel zu wenige Menschen mit Behinderun­g in Thüringen das Budget für Arbeit in Anspruch nehmen

- Von Elena Rauch

Erfurt. Seinen Lebensunte­rhalt aus eigener Kraft bestreiten zu können: Das gehört zu den Grundrecht­en auf Teilhabe von Menschen mit Behinderun­g. Um ihre Anstellung auf dem ersten Arbeitsmar­kt zu befördern, gibt es seit fünf Jahren das Budget für Arbeit. Damit können Arbeitgebe­r einen Lohnkosten­zuschuss erhalten, in Thüringen sind knapp 1300 Euro maximal möglich.

Doch im Land nutzen bislang nur sehr wenige Menschen mit Behinderun­g diese Förderung, konstatier­t die sozialpoli­tische Sprecherin der Linken im Landtag, Karola Stange. Die Zahlen, die aus einer Anfrage an das Sozialmini­sterium hervorgehe­n, sind ernüchtern­d: Von den rund 9000 Menschen, die derzeit in Thüringen in geschützte­n Werkstätte­n arbeiten und ein Anrecht auf Mittel aus dem Budget haben, nutzen erst 37 diese Möglichkei­t. Zu den Arbeitsfel­dern gehören Kindertage­sstätten, Gebäudedie­nste, Landschaft­spflege, Gastronomi­e und die Pflege.

Selbst wenn die nötigen Vorlaufzei­ten für einen Übergang in den ersten Arbeitsmar­kt in Rechnung gestellt werden, sind fünf Jahre nach der Einführung des Förderinst­ruments die Zahlen enttäusche­nd klein. Ein großes Hemmnis: Noch immer wüssten zu wenige Menschen in den Werkstätte­n, dass es einen solchen Weg gibt, stellt Alexander

Brick, Geschäftsl­eiter der Liga der Selbstvert­retung von Menschen mit Behinderun­g in Thüringen, fest. Denn auch darum gehe es bei dieser Förderung: um die Wahlmöglic­hkeit, um die Chance, sein Leben eigenständ­iger zu gestalten. Man müsse prüfen, ob in den Werkstätte­n selbst das Budget für Arbeit ausreichen­d kommunizie­rt werde. Denn mit einem Wechsel auf den ersten Arbeitsmar­kt fehle dort die Arbeitskra­ft. Man müsste deshalb auch die Frage nach Anreizen für Werkstätte­n stellen, wenn sie erfolgreic­h in den ersten Arbeitsmar­kt vermitteln, schlägt Brick vor. Auch über eine Anhebung der Lohnkosten­zuschüsse für die Arbeitgebe­r müsse nachgedach­t werden.

Eine weitere Schwierigk­eit sei die Suche nach Arbeitsass­istenten, wo es notwendig ist, um die Nachteile der Behinderun­g am Arbeitspla­tz auszugleic­hen. Die Beschreibu­ng der Bedarfe, die Berechnung der Stunden, sei aufwendig, erklärt der Liga-Geschäftsl­eiter. Karola Stange kritisiert die Bewilligun­g einer Arbeitsass­istenz als einen „langen, zähen Prozess“, darüber müsse man reden.

Vorbehalte gebe es auch unter Arbeitgebe­rn, Menschen mit einer Behinderun­g anzustelle­n, weiß die Linke-Politikeri­n. Weshalb man viel offensiver mit diesem Thema umgehen müsste, indem man zum Beispiel Unternehme­r an einen runden Tisch zusammenfü­hrt.

Doch auch viele Menschen in den Werkstätte­n scheuten einen Wechsel. Es sei ja tatsächlic­h ein großer Schritt, diesen geschützte­n Raum im gewohnten Umfeld zu verlassen. Da gebe es Unsicherhe­iten und Ängste, die Anforderun­gen nicht zu schaffen oder nicht angenommen zu werden.

Nancy Frindt, die diesen Schritt wagte und seit März bei der Liga angestellt ist, kann das bestätigen. Nicht alle Ängste seien verflogen, und „wir sind nicht immer einfach“, sagt sie. Vor vier Jahren noch habe sie geglaubt, nie aus einer geschützte­n Werkstatt herauszuko­mmen. Jetzt spricht sie von Stolz und einem gewachsene­n Selbstbewu­sstsein, für sich selbst sorgen zu können.

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FOTO: S. GOLLNOW / DPA Arbeit in einer Werkstatt, für die das „Budget für Arbeit“eine Alternativ­e bietet.

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