Wo die Lebenden mit den Toten wohnen
Bis vor wenigen Wochen war Butscha eine hübsche Gemeinde vor den Toren Kiews. Nach Abzug der russischen Soldaten kommen nun immer neue Gräuel ans Licht
Butscha. Absolute Stille. Nachts gibt es in Butscha nicht ein Geräusch mehr: nicht einmal von Haustieren oder Vögeln – oder von Menschen. Morgens dann erregt der Lärm, den die kleine braun-beige Hündin von Ludmilla und Nina Boschok in der Siegesstraße Nr. 11 macht, Aufmerksamkeit. Sie ist bei den leblosen Körpern ihrer Frauchen geblieben. Die eine liegt in der offenen Haustür ihres bescheidenen Heims, ihre Schwester ausgestreckt in der Küche, unter einem Holztisch mit einer gemusterten Wachstuchdecke. Unter lautem Bellen umkreist das Tier die Leichen der beiden Frauen und kann sie doch nicht wieder zum Leben erwecken.
Im Hof des kleinen Hauses haben Schrapnellsplitter die Palisaden durchlöchert. „Sie wurden beide von einer Rakete erwischt, die am 5. März eingeschlagen ist. Die eine war gerade am Gartenzaun, sie war sofort tot“, erzählt der Nachbar. „Zwei Männer, die gerade vorbeikamen, haben ihre Körper ins Haus gezogen. Aber wegen der Bombardierungen sind sie nicht weitergekommen.“Die beiden Schwestern sind da liegen geblieben. „Nachdem die Russen abgezogen waren, habe ich die Polizei gerufen“, erzählt der Nachbar weiter. „Aber die hatten so viel zu tun.“
Die Beseitigung der Leichen war nach der erneuten Einnahme der Stadt durch die ukrainische Armee das Dringendste. Die sichtbarsten Leichname wurden fortgeräumt. Jetzt geht es auf die Suche nach denen, die in Gärten, Häusern und Kellern liegen.
Vor dem Krieg war Butscha eine hübsche Siedlung 25 Kilometer nordwestlich von Kiew. Viele junge Paare, die in den Genuss einer Umgebung im Grünen kommen wollten, ließen die Bevölkerung jedes Jahr weiter anschwellen, bis sie voriges Jahr 36.000 Einwohner erreichte. Die Stadt lag auf dem Weg der russischen Armee, die die Hauptstadt Kiew im Visier hatte. Die Soldaten waren zunächst nur durchgezogen, bevor sie vor dem ukrainischen Widerstand zurückwichen und die Stadt ab 12. März besetzten.
Nach seiner Befreiung am 31. März besteht Butscha heute aus Kälte, Schlamm und von zerstörten Häusern gesäumten Straßen. Einigen Überlebende, die dageblieben sind. Und den Toten – den Opfern der Bombardierungen, der Hinrichtungen und der Kriegsverbrechen. Mehrere Hundert. Abschließende Zahlen gibt es noch nicht.
Für den Satz „Ehre der Ukraine“wurde die Tochter erschossen
Mit verschlossenen Mienen warten Kriminalbeamte im Garten eines schicken Hauses in der Bahnhofsstraße auf den Gerichtsmediziner. Im Carport: ein luxuriöser SUV. Im Inneren: gewaltiges Chaos. Eingetretene Schränke, zerschmetterte Schubladen; auf der Suche nach Wertgegenständen wurde jedes Zimmer auf den Kopf gestellt.
Am Boden mischen sich Bierflaschen mit Absatzschuhen und weit offen stehenden Handtaschen. Die Plünderung war brutal. Die Kriminalpolizisten suchen nach Ausweispapieren, Autoschlüsseln. Währenddessen wird eine Leiche mit Seilen aus dem Keller gehoben und aus dem Haus gebracht. Den Polizisten zufolge wurde das Opfer wahrscheinlich vergewaltigt, bevor es ermordet wurde. Der Körper weist Verletzungen auf, die Schädeldecke ist nicht mehr vorhanden.
Aus einem Bilderrahmen lächelt inmitten der Unordnung das schöne Gesicht einer jungen, braunhaarigen Frau, die ihr ganzes Leben noch vor sich hat. „Wenn man sich den Körper ansieht, war sie jünger als 40. Aber es gibt keine Nachbarn mehr, niemanden mehr, der uns sagen kann, wie sie hieß“, erklärt einer der Gerichtsmediziner knapp. Kurze Zeit später findet sich auf dem Versicherungsschein für das Auto ein Name. Die Frau war 33.
Sergeij Kopatschew wohnt in der Nachbarschaft. Seiner Aussage nach hat der Leidensweg der Frau, die ermordet aufgefunden wurde, zwei Tage gedauert. Er selbst wartet darauf, seine eigene Tochter, die 36jährige Anna, in Würde begraben zu können. Sie wurde von russischen Soldaten hingerichtet, gemeinsam mit einem Freund. Laut ihrem Vater hatte sie auf ihre anzüglichen Scherze „Ehre der Ukraine“geantwortet. Sie schossen ihr in den Kopf.
Gerichtsmediziner holen die Leichensäcke aus dem Gräbern
In einiger Entfernung leuchten die goldenen Zwiebeltürme der Apostelkirche des Heiligen Andreas, ein Symbol der vergangenen Pracht dieser Wohngegend, in der fahlen Sonne. Hinter dem Gebäude wurden die ersten eingesammelten Leichen in schwarzen Plastiksäcken in einem als Massengrab dienenden, neu ausgehobenen Graben abgelegt. Weiter entfernt warten, mit geröteten Augen, die Familien. Es sind vor allem Frauen, die gekommen sind, um herauszufinden, ob sich unter den Toten hier Angehörige befinden. Im Graben sind in weiße Overalls gekleidete Gerichtsmediziner damit beschäftigt, einen Sack nach dem anderen herauszuholen. Nach dem Öffnen der Hülle führen sie eine kurze Untersuchung durch, um den Ursprung der sichtbaren Verletzungen festzustellen.
In der Tarasiwska-Straße sind Galina Fitisowa, Ala Saponenko und Galina Maluschenko dabei, auf einem improvisierten Feuer Teewasser zu kochen. Auf dem Gehweg vor dem Eingang des Wohnblocks schieben die drei Frauen Kleinholz unter das gusseiserne Gitter. „Seit einem Monat ist das unsere Heizung“, sagt eine der beiden Galinas.
Von den 400 Menschen, die in dem Wohnblock lebten, sind nur zwölf während der Besatzung geblieben. „Alle sind in den ersten drei, vier Tagen nach der Invasion gegangen. Bevor sie geflohen sind, haben sie mir ihre Schlüssel und das, was sie im Kühlschrank hatten, gegeben. So konnten wir durchhalten“, erklärt eine der drei. „Ein paar Tage später wurden wegen der Bombardierungen das Wasser, der Strom und das Gas abgestellt.“
Fast einen Monat lang wurde ihr Leben zur Hölle. Die Russen, die in der Nähe Stellung bezogen hatten, streiften durch das Viertel. Manche, die oben auf den Gebäuden postiert waren, machten sich einen Spaß, auf Menschen zu schießen, die dabei waren, Wasser von einem Brunnen zu holen. „Sie haben sich gelangweilt oder sie waren betrunken, also haben sie geschossen.“
Hinter dem Wohnblock wurden neun Gräber ausgehoben, direkt auf dem Rasen der Grünfläche, die vor ein, zwei Monaten noch ein Spielplatz war. „Sein Name war Sergeij“, sagt Galina und zeigt auf ein Kreuz. Auf dem Holz ist zu lesen „1965 – 2022“. Die anderen hier begrabenen Opfer wohnten im Gebäude gegenüber.
„Sie haben sich gelangweilt oder sie waren betrunken, also haben sie geschossen.“
Galina Fitisowa, eine Bewohnerin von Butscha, über die russischen Soldaten