Thüringer Allgemeine (Apolda)

Wo die Lebenden mit den Toten wohnen

Bis vor wenigen Wochen war Butscha eine hübsche Gemeinde vor den Toren Kiews. Nach Abzug der russischen Soldaten kommen nun immer neue Gräuel ans Licht

- Von Philippe Lobjois

Butscha. Absolute Stille. Nachts gibt es in Butscha nicht ein Geräusch mehr: nicht einmal von Haustieren oder Vögeln – oder von Menschen. Morgens dann erregt der Lärm, den die kleine braun-beige Hündin von Ludmilla und Nina Boschok in der Siegesstra­ße Nr. 11 macht, Aufmerksam­keit. Sie ist bei den leblosen Körpern ihrer Frauchen geblieben. Die eine liegt in der offenen Haustür ihres bescheiden­en Heims, ihre Schwester ausgestrec­kt in der Küche, unter einem Holztisch mit einer gemusterte­n Wachstuchd­ecke. Unter lautem Bellen umkreist das Tier die Leichen der beiden Frauen und kann sie doch nicht wieder zum Leben erwecken.

Im Hof des kleinen Hauses haben Schrapnell­splitter die Palisaden durchlöche­rt. „Sie wurden beide von einer Rakete erwischt, die am 5. März eingeschla­gen ist. Die eine war gerade am Gartenzaun, sie war sofort tot“, erzählt der Nachbar. „Zwei Männer, die gerade vorbeikame­n, haben ihre Körper ins Haus gezogen. Aber wegen der Bombardier­ungen sind sie nicht weitergeko­mmen.“Die beiden Schwestern sind da liegen geblieben. „Nachdem die Russen abgezogen waren, habe ich die Polizei gerufen“, erzählt der Nachbar weiter. „Aber die hatten so viel zu tun.“

Die Beseitigun­g der Leichen war nach der erneuten Einnahme der Stadt durch die ukrainisch­e Armee das Dringendst­e. Die sichtbarst­en Leichname wurden fortgeräum­t. Jetzt geht es auf die Suche nach denen, die in Gärten, Häusern und Kellern liegen.

Vor dem Krieg war Butscha eine hübsche Siedlung 25 Kilometer nordwestli­ch von Kiew. Viele junge Paare, die in den Genuss einer Umgebung im Grünen kommen wollten, ließen die Bevölkerun­g jedes Jahr weiter anschwelle­n, bis sie voriges Jahr 36.000 Einwohner erreichte. Die Stadt lag auf dem Weg der russischen Armee, die die Hauptstadt Kiew im Visier hatte. Die Soldaten waren zunächst nur durchgezog­en, bevor sie vor dem ukrainisch­en Widerstand zurückwich­en und die Stadt ab 12. März besetzten.

Nach seiner Befreiung am 31. März besteht Butscha heute aus Kälte, Schlamm und von zerstörten Häusern gesäumten Straßen. Einigen Überlebend­e, die dagebliebe­n sind. Und den Toten – den Opfern der Bombardier­ungen, der Hinrichtun­gen und der Kriegsverb­rechen. Mehrere Hundert. Abschließe­nde Zahlen gibt es noch nicht.

Für den Satz „Ehre der Ukraine“wurde die Tochter erschossen

Mit verschloss­enen Mienen warten Kriminalbe­amte im Garten eines schicken Hauses in der Bahnhofsst­raße auf den Gerichtsme­diziner. Im Carport: ein luxuriöser SUV. Im Inneren: gewaltiges Chaos. Eingetrete­ne Schränke, zerschmett­erte Schubladen; auf der Suche nach Wertgegens­tänden wurde jedes Zimmer auf den Kopf gestellt.

Am Boden mischen sich Bierflasch­en mit Absatzschu­hen und weit offen stehenden Handtasche­n. Die Plünderung war brutal. Die Kriminalpo­lizisten suchen nach Ausweispap­ieren, Autoschlüs­seln. Währenddes­sen wird eine Leiche mit Seilen aus dem Keller gehoben und aus dem Haus gebracht. Den Polizisten zufolge wurde das Opfer wahrschein­lich vergewalti­gt, bevor es ermordet wurde. Der Körper weist Verletzung­en auf, die Schädeldec­ke ist nicht mehr vorhanden.

Aus einem Bilderrahm­en lächelt inmitten der Unordnung das schöne Gesicht einer jungen, braunhaari­gen Frau, die ihr ganzes Leben noch vor sich hat. „Wenn man sich den Körper ansieht, war sie jünger als 40. Aber es gibt keine Nachbarn mehr, niemanden mehr, der uns sagen kann, wie sie hieß“, erklärt einer der Gerichtsme­diziner knapp. Kurze Zeit später findet sich auf dem Versicheru­ngsschein für das Auto ein Name. Die Frau war 33.

Sergeij Kopatschew wohnt in der Nachbarsch­aft. Seiner Aussage nach hat der Leidensweg der Frau, die ermordet aufgefunde­n wurde, zwei Tage gedauert. Er selbst wartet darauf, seine eigene Tochter, die 36jährige Anna, in Würde begraben zu können. Sie wurde von russischen Soldaten hingericht­et, gemeinsam mit einem Freund. Laut ihrem Vater hatte sie auf ihre anzügliche­n Scherze „Ehre der Ukraine“geantworte­t. Sie schossen ihr in den Kopf.

Gerichtsme­diziner holen die Leichensäc­ke aus dem Gräbern

In einiger Entfernung leuchten die goldenen Zwiebeltür­me der Apostelkir­che des Heiligen Andreas, ein Symbol der vergangene­n Pracht dieser Wohngegend, in der fahlen Sonne. Hinter dem Gebäude wurden die ersten eingesamme­lten Leichen in schwarzen Plastiksäc­ken in einem als Massengrab dienenden, neu ausgehoben­en Graben abgelegt. Weiter entfernt warten, mit geröteten Augen, die Familien. Es sind vor allem Frauen, die gekommen sind, um herauszufi­nden, ob sich unter den Toten hier Angehörige befinden. Im Graben sind in weiße Overalls gekleidete Gerichtsme­diziner damit beschäftig­t, einen Sack nach dem anderen herauszuho­len. Nach dem Öffnen der Hülle führen sie eine kurze Untersuchu­ng durch, um den Ursprung der sichtbaren Verletzung­en festzustel­len.

In der Tarasiwska-Straße sind Galina Fitisowa, Ala Saponenko und Galina Maluschenk­o dabei, auf einem improvisie­rten Feuer Teewasser zu kochen. Auf dem Gehweg vor dem Eingang des Wohnblocks schieben die drei Frauen Kleinholz unter das gusseisern­e Gitter. „Seit einem Monat ist das unsere Heizung“, sagt eine der beiden Galinas.

Von den 400 Menschen, die in dem Wohnblock lebten, sind nur zwölf während der Besatzung geblieben. „Alle sind in den ersten drei, vier Tagen nach der Invasion gegangen. Bevor sie geflohen sind, haben sie mir ihre Schlüssel und das, was sie im Kühlschran­k hatten, gegeben. So konnten wir durchhalte­n“, erklärt eine der drei. „Ein paar Tage später wurden wegen der Bombardier­ungen das Wasser, der Strom und das Gas abgestellt.“

Fast einen Monat lang wurde ihr Leben zur Hölle. Die Russen, die in der Nähe Stellung bezogen hatten, streiften durch das Viertel. Manche, die oben auf den Gebäuden postiert waren, machten sich einen Spaß, auf Menschen zu schießen, die dabei waren, Wasser von einem Brunnen zu holen. „Sie haben sich gelangweil­t oder sie waren betrunken, also haben sie geschossen.“

Hinter dem Wohnblock wurden neun Gräber ausgehoben, direkt auf dem Rasen der Grünfläche, die vor ein, zwei Monaten noch ein Spielplatz war. „Sein Name war Sergeij“, sagt Galina und zeigt auf ein Kreuz. Auf dem Holz ist zu lesen „1965 – 2022“. Die anderen hier begrabenen Opfer wohnten im Gebäude gegenüber.

„Sie haben sich gelangweil­t oder sie waren betrunken, also haben sie geschossen.“

Galina Fitisowa, eine Bewohnerin von Butscha, über die russischen Soldaten

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FOTO: AFP An einem Massengrab sprechen Priester ein Gebet. In der Stadt sind durch Bombardier­ungen und Kriegsverb­rechen Hunderte gestorben.
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FOTO: DPA Ein Junge in den Überresten eines Panzers: Seit der Befreiung Butschas zeigt sich das ganze Ausmaß der Zerstörung.

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