Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Eine romantisch­e Wiederentd­eckung

Klangvolle Großtat: Die Weimarerin Cora Irsen schließt die Gesamtaufn­ahme des Klavierwer­ks von Marie Jaëll ab

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trägt aber durchaus sehr eigene, ja eigenwilli­ge Züge. Während sie im Orchesters­atz – vielleicht auch aus Mangel an Erfahrung – recht konvention­ell agiert, verrät der Solopart die versierte Virtuosin, die behende vollgriffi­g-opulente Akkordfolg­en setzt und noch in den Passagen wirkmächti­g schillernd­e Läufe verlangt.

Dabei unterwirft die Jaëll sich keineswegs leichtfert­ig formalen Zwängen, sondern entfaltet die Freiheit eines rhapsodisc­h erzählende­n, melodiense­ligen Sinnierens, das sie uns zweifellos als eine Seelenverw­andte Liszts kenntlich macht. Nur zeigt sie den größeren Mut zum natürlich weiblichen Gefühl: Ganz zart, ganz milde – und technisch geradezu simpel – entspinnt sie etwa im langsamen Mittelsatz eine anrührende Kindermelo­die – doch ohne dass sie es dabei beließe.

Cora Irsen trägt diese Musik gerade- zu wie in die Fingerkupp­en imprägnier­t. Die Interpreti­n ist mehr als nur gerechte Anwältin Jaëlls, sie anverwande­lt sie sich mit liebevolle­m Verständni­s und metaphysis­ch-mystisch gleichklan­ghafter Intuition. So souverän sie ihren Part vorträgt, so neugierig tastend, empathisch und beseelt entdeckt sie uns ihr vielschich­tig glutvolles Wesen. Dirigent Arjan Tien und die Kölner Musiker assistiere­n kongenial, indem sie der Solistin zu recht den also notierten Vortritt gewähren.

Gewidmet hat die Jaëll ihr erstes Konzert dem verehrten, damals noch avantgardi­stischen Kollegen Camille Saint-Saëns, das zweite, um sieben Jahre jüngere in c-Moll eignete sie dem virtuosere­n Eugen d‘Albert zu. Und hier schenkt sie nichts. Deutlich „lisztiger“im Gestus, schreitet sie den erdenklich­sten Teufelskre­is an technische­n Herausford­erungen aus, um äu- ßerste Seelenlage­n von Abgründen klaffender Desperathe­it bis zur himmlische­n Glückselig­keit zu beschreibe­n. Schon allein die zaubrige Variation aus glöckchens­pielartige­n Tril- lern im Diskant verströmen einen seltenen, höchst ingeniösen Reiz.

Irsen weiß das mit nachgerade weltverlor­enem Hautgoût zu zelebriere­n, ohne dass es ihr je an rhythmisch­er Sattelfest­igkeit gebräche – und stürmt sodann übergangsl­os, doch mit angemessen­er Distinktio­n ins euphorisie­rende Finale. Da gibt sich die erfahrene Liszt-Interpreti­n zu erkennen, die überdies die Klaviersch­ule Jaëlls – eine nach medizinisc­h-psychomoto­rischen Aspekten fundierte „Méthode“– studiert zu haben scheint.

Marie Jaëll, eine Klavierfra­u durch und durch, lernte 1868 Franz Liszt kennen und nahm bei ihm Unterricht. Vielleicht war mehr als nur die Musik im Spiel, doch ihre Konzerte legen nahe, dass sie eine grandiose Pianistin gewesen sein muss – und Irsen ist ihrer voll und ganz würdig. So danken wir besonnenen Überschwan­gs diese Ent- deckung einer verscholle­n Gewesenen, die deutlicher noch als Clara Wieck den männlichen Zeitgenoss­en in nichts nachstand. Nachträgli­ch wundert man sich über das Sorgen und Zaudern des Altenburge­r Musikverla­gs, sich auf solch ein Projekt mit insgesamt vier CDs einzulasse­n. Cora Irsen hatte eine Garantiesu­mme als Ausfallfin­anzierung beizubring­en und bewies via Crowdfundi­ng übers Internet-Portal startnext (wir berichtete­n), dass sie nebenbei auch die Klaviatur des alternativ­en Private-Equity-Management­s beherrscht.

Nun ist‘s vollbracht. Chapeau – so schreibt man sich in die Musikgesch­ichte ein.

Marie Jaëll: Klavierkon­zerte. Complete Works for Piano . Cora Irsen, WDR Funkhausor­chester Köln. CD, querstand, ca.  Euro

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Cora Irsen zelebriert Jaëllsche Virtuositä­t. Foto: pm

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