Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Der Lebensläufer
Am Sonnabend nimmt der Erfurter Matthias Schulze auf dem Rennsteig wieder den Supermarathon unter die Füße – zum 40. Mal hintereinander
Dieser kleine Sockel auf dem Schmiedefelder Sportplatz. Ein lächerlicher Absatz, kaum höher als ein Bordstein. Unmöglich, da allein hinauf zu kommen. Matthias Schulze braucht eine Hand, die ihn stützt. Sehnen lügen nicht. Er hat dieses Gefühl bis heute nicht vergessen.
Und das andere, das stärkere, auch nicht. Den Zieleinlauf. Der ist unbeschreiblich. „Das lässt sich nicht weitergeben“, sagt er, fast entschuldigend. Wer es nachempfinden will, muss die gut 70 Kilometer schon selber laufen. 1978 bewältigt der Erfurter sie zum ersten Mal. Morgen früh steht der 60-Jährige wieder auf dem Eisenacher Marktplatz am Start. Zum 40. Mal. Vierzig Jahre ohne Pause. Ein Maximalist des Rennsteigs.
Und ein Minimalist im Training. Jeden Sonntag läuft er von seinem Haus in Egstedt hinauf auf den Riechheimer Berg. Hin und zurück sind das ziemlich genau 18,5 Kilometer. Die Runde ergänzt er jährlich ab Anfang Februar mit einem 10-km-Lauf in der Woche. Mehr als diese knapp 30 Kilometer umfasst sein wöchentliches Pensum nicht. Dabei fordert jeder Trainingsplan mindestens das Doppelte. Doch es funktioniert. Seit 39 Jahren.
Es gibt viele Läufer, die sind Süchtige. Für die sind Training und Wettkampf die Droge, die sie wahlweise berauscht oder zerstört, weil sie das Maß nicht finden. Auch Schulze ist ein Abhängiger. Ein Rennsteig-Junkie. Doch im Feld der Kilometerverrückten wirkt der promovierte Diplom-Ingenieur der Ökonomie wie ein disziplinierter Patient. Einer, der weiß, was ihm hilft und was nicht. Der wohl dosiert zweimal in der Woche sein Trainingsrezept einlöst und einmal im Jahr zum großen Wettkampf-Check vorstellig wird. Immer im Mai. Immer auf dem Rennsteig. Immer beim Supermarathon. Den Marathon, sagt er, würde ich nicht schaffen. Die langen Geradeaus-Passagen wären ihm auf der 42-km-Strecke mental einfach zu schwer. Verrückt. Lieber läuft er amtlich vermessene 73,5 Kilometer. Weil‘s so schön abwechslungsreich ist.
Er trägt den Mitgliedsausweis des Rennsteiglaufvereins in der Tasche, aber er ist kein Vereinsmeier. Kein Siegertyp, dafür ein Autopilot des Dabeiseins. Und damit einer, der die Seele dieses Laufes verkörpert. Die joggende Interpretation von Oscar Wildes Erkenntnis, wonach das Außergewöhnliche der Welt ihren Wert gibt, das Durchschnittliche aber ihren Bestand. Matthias Schulze, klassischer Volkssportler wie Tausende andere, ist einer jener Lauf-Garanten. Ein Bestandsläufer. Ein Bürge der Berge, ohne die es das Phänomen Rennsteig nicht gäbe.
Als Junge ist er bei Turbine Erfurt unter Trainer Werner Belitz dem Puck nachgejagt. Nachdem das leistungssportliche Eishockey 1970 zusammengestrichen wird, wechselt er zum Eisschnelllauf. So kann er an der Kinderund Jugendsportschule bleiben. „Ja“, lacht er, „ein sportliches Grundrauschen ist in mir drin.“
Er ist 21, als ihn der Mythos Rennsteiglauf erfasst. Artikel in der „Jungen Welt“, die mehr und spannender als andere Zeitungen von diesem neuen Wettkampf im Thüringer Wald erzählen, machen ihn neugierig. Über die Betriebssportgemeinschaft Post Erfurt besorgt er sich eine der raren Startkarten. Zehn Trainingsläufe hat er absolviert, maximal 15 Kilometer lang. „Mehr war damals nicht üblich, es gab ja noch keine großartigen Laufprogramme“, erinnert er sich. Rennsteiglauf, das war ein
Erfurt.
bisschen Abenteuer in der DDR. Ein Strich gegen die Konvention. Neben den Ausdauernden stand auch die Spezies der Draufgänger am Start.
Die Erinnerung trägt Matthias Schulze bis heute über die Strecke. Der Weg von Eisenach hinauf auf den Inselsberg, Kilometer 25, wo er spürt: es läuft. Hinüber zum Grenzadler, Kilometer 54, wo Kopf und Beine gleichermaßen das Ziel herbeisehnen, weiter hinauf zur Schmücke, wo er sich immer ein Bier gönnt („Nichts löscht besser den Durst.“) und eine Stimme in ihm dennoch das ultimative Aufhören fordert. Damals, als die Starterzahlen des Supermarathons noch weit unter der heutigen 2000-er-Marke liegen, ist er auf diesem Abschnitt allein unterwegs. Keiner ist da, der ihn auffängt. Also spricht er mit sich selbst. Laut. Das machst Du nie wieder, brüllt er sich an.
Doch dann weht der Wind auf den letzten Kilometern die Stimmen und die Musik vom Schmiedefelder Sportplatz herüber. Als er bei seinem Premierenlauf die Zielgerade erreicht, erlebt er zum ersten Mal jenes Wunder, das jeder Marathonläufer kennt und so tief zu empfinden weiß. Der Schalter des Glücks, eben noch hoffnungslos eingerostet, springt um. Sofort steht für ihn fest: Nächstes Jahr wieder.
Seitdem hat er diesen Spannungsbogen 39 Mal durchschritten und durchlitten. Immer auf der gleichen Strecke. Und doch immer mit neuem Blick. 40 Jahre haben die Sichtachsen verändert, sagt er. Als er seine ersten Läufe bestreitet, gibt es am Heuberghaus eine junge Schonung. Heute läuft er dort durch einen ausgewachsenen Wald mit Bäumen, 20 Meter hoch. Am schärfsten war der Kontrast 2006/2007, als der Orkan Kyrill dem Grün tiefe und bleibende Schrammen ins Gesicht schlägt. Und zugleich neue, überraschende Fernblicke eröffnet.
Vier Jahrzehnte läuft er, länger als ein halbes Leben. Doch Zeiten interessieren ihn nicht. Nicht auf der Strecke. Solch ein Lauf gibt ihm viel mehr. Öffentlichkeit und Anonymität, Gespräche mit Läufern, aus denen über die Jahre Freundschaften werden. Oder den stillen Rückzug ins Ich. Rennsteiglauf heißt für Matthias Schulze auch, Bi- lanz zu ziehen. Er blickt zurück auf das verstrichene Jahr, von der Familie bis zur Weltpolitik, vom Hobby bis zum Beruf. Wo sonst habe ich so lange Zeit, in Ruhe nachzudenken, sagt er.
Er hat Hitzeschlachten erlebt. Und Schneeschauer auf dem Inselsberg, als die Läufer sich gegenseitig aushelfen mit wärmenden Jacken. Er sieht, wie einer aus einer Mülltonne einen Abfallsack holt, ihn ausschüttet und als schützende Behelfsweste überstülpt. Ins Ziel gekommen ist er immer.
Einmal, 1985, sogar ganz ohne Training. Im Frühjahr stirbt sein vierjähriger Sohn Hannes. Ein Schicksalsschlag, der ihm alle Kraft nimmt. Aber nicht den Mut für den Rennsteig. Er läuft damals auch für ihn.
Seitdem widmet er jeden seiner Starts einem Menschen. Diesmal läuft Matthias Schulze für Hans-Joachim Römhild, einen der Gründerväter, mit deren Taschenlampenstart 1973 alles begann. Drei Mal sind sie gemeinsam gelaufen, im vorigen Jahr stirbt Römhild überraschend. 43 Mal hat er den Rennsteig bewältigt. Ihm zu Ehren wird morgen in Schmiedefeld ein Gedenkstein enthüllt.
Wenn er ins Ziel kommt, ist Matthias Schulze nie allein. Immer sind seine Frau Christine, die Kinder und die Schwiegerkinder da. „Das ist ein großes Glück“, sagt er. Die Familie hat dann meist den Halbmarathon in den Beinen. Wenn sie schon wartet, ist er noch unterwegs.
An der Ebertswiese etwa, wo er sich stets ein Paar Wiener gönnt. Mit Senf natürlich. Noch lieber ist ihm ein Butterbrot mit Schnittlauch. Nur bitte keinen Haferschleim. Einmal hat er ihn probiert. Er liegt ihm schwer im Magen. Ich dachte, ich bin schwanger, lacht er.
Oder an der Neuhofswiese, wo er Jahre lang Bärwurz-Wolfgang und seinem selbstgebrannten Klaren nie entkommen kann. Mag sein, dass er den Doppelten auch aus Dankbarkeit gegenüber seinem Freund Volker Kittel runterkippt. Der frühere Gesamtleiter des Laufes – Schulze verneigt sich vor ihm stellvertretend für alle, die dieses Rennen am Leben halten – gehört bis heute zur Jahn-Hütte, der Braustätte des berühmten Schnapses.
Irgendwie steckt das Ausdauer-Gen in ihm drin. Vor vielen Jahren vererbt ihm eine Tante einen goldenen Ring. Mit einem Rad-Wettkampf habe der zu tun, deutet sie an. Später entdeckt er eine Gravur: Radrennen Wien – Berlin 1893, Heinrich Schulze. Sein Urgroßvater belegt damals in 32 Stunden den 15. Platz.
Genau 101 Jahre später glückt auch dem Urenkel ein Leistung fürs Geschichts-, genauer gesagt für das Guinnessbuch. Zusammen mit Hartwig Gauders sechsköpfiger Walking-Gruppe absolviert er den Rennsteig nonstop.
Nein, dieser Weg auf den Höh‘n lässt ihn einfach nicht los. Und auch nicht diese besondere Stimmung im Ziel. Die sich noch einmal potenziert im Festzelt. Abends um sechs geht‘s los. Schon nachmittags um vier sind alle Plätze, es sind zwei-, dreitausend, belegt. Matthias Schulze wird auch morgen mittendrin sein. Und wieder spüren, dass dieser Rennsteiglauf mehr ist als Europas beliebtester Landschaftsmarathon. Er ist ein einmaliges Gefühl. Trotz seines sportlichen Anspruchs, trotz seines steten Auf und Ab, trotz seiner Schmerzen. Ein Lauf, bei dem ein Bordstein zum Hindernis werden kann. Und ein Kieselstück zum Meilenstein.
Ein Lebenslauf, bei dem die Träume manchmal stärker sind als der Verstand. 8 Kilometer Bratwurst
An der Strecke und im Ziel werden gereicht: 30 000 Liter alkoholfreie Getränke, 7200 Liter Tee, 3000 Liter Haferschleim, 11 000 Äpfel, 14 000 Bananen, 15 000 Flaschen Schwarzbier, verkaufte Bratwürste in einer Gesamtlänge von 8 Kilometern. 1600 Helfer aus mehr als 30 Vereinen unterstützen den Lauf.
Warnsignale des Körpers
Dr. Wolfgang Schuh, Leiter des medizinischen Kompetenzteams des Laufs, rät: „Bei Schmerzen am Stütz- und Bewegungsapparat, Herzrasen, Kopfschmerzen, Atemnot, Schwindel, Thoraxschmerzen oder Übelkeit gilt es zu reagieren, den Lauf sofort zu beenden und sich in medizinische Hände zu begeben.“
Der Supermarathon
Die Königsstrecke ist der größte, einer der landschaftlich schönsten und in seiner Streckenführung zweifellos anspruchsvollsten Ultramarathons Europas. Er führt über 73,5 km von Eisenach nach Schmiedefeld. Start: 6 Uhr.
Der Marathon
Neu für alle Marathonläufer auf dem Weg von Neuhaus nach Schmiedefeld ist, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit bei Kilometer 33,4 am Dreiherrenstein gibt. Hier werden die Aussteiger als offizielle Teilnehmer gewertet, was das Wagnis Marathon etwas erleichtert. Start: 9 Uhr.
Der Halbmarathon
Die 21,1 Kilometer von Oberhof nach Schmiedefeld sind die Strecke mit den meisten Teilnehmern. Der Run auf die Startplätze ist nach wie vor ungebrochen, weshalb das vor drei Jahren auf 7500 Anmeldungen angehobene Teilnehmerlimit auch in diesem Jahr schon Anfang April erreicht wurde. Start: 7.30 Uhr.
An der Ebertswiese ein paar Wiener
Die Walker und Wanderer Erstmals können auf der Marathonstrecke auch Wanderer und Nordic Walker unterwegs sein, die damit ihren eigenen Zieleinlauf auf dem wohl berühmtesten Sportplatz Thüringens feiern können. Um 9 Uhr fällt der Startschuss für die Marathonläufer, um 9.15 Uhr werden die Wanderer und Nordic Walker auf die Strecke geschickt.
Sonntag nach Schnepfenthal
In Schnepfenthal findet am Sonntag ein Lockerungslauf über vier Kilometer statt. Er startet 11 Uhr nach einer Kranzniederlegung am Grab von GutsMuths, der vor 178 Jahren am 21. Mai 1839 gestorben ist. Auch in der GutsMuths-Gedächtnishalle gibt es einiges zu entdecken: die Ausstellung zur Geschichte des Rennsteiglaufes und eine Fotoausstellung mit Finisherporträts.
TA-Talk zum Thema Laufen Der Boomsport Laufen steht in der kommenden Woche im Mittelpunkt des Sporttalks „Im Steigerwaldstadion“. RennsteiglaufGeschäftsführer Marcus Clauder und Gunter Rothe von Lauffeuer Fröttstädt stellen sich den Fragen der TA-Reporter Gerald Müller und Marco Alles.