Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

„Ohne Idealismus werden wir die Welt nicht bessern“

Regisseuri­n Nina Gühlstorff schildert, wie sie Verdis „Otello“interpreti­eren will – Weimarer Premiere am Sonnabend

- Von Wolfgang Hirsch

Weimar.

Mit „Otello“, Giuseppe Verdis vorletzter Oper, feiert diesen Samstag ein lange vermisstes Repertoire­stück Premiere am Weimarer DNT. Die musikalisc­he Leitung obliegt Oleg Caetani, von 1984 bis 1987 „ständiger Gastdirige­nt“der Staatskape­lle. Wir sprachen mit der Regisseuri­n Nina Gühlstorff („Eugen Onegin“, „Die Zauberflöt­e“) über ihre Lesart dieser Shakespear­e-Adaption.

Warum ist Otello bei Ihnen kein Schwarzer?

Die Partie wird bei uns von Alexey Kosarev, einem Russen, gesungen, den wir nicht anmalen wollten. Auch die Debatte darüber wollte ich vermeiden. Sondern ich möchte von einem Außenseite­r erzählen, der kriegsvers­ehrt ist, einem Fremden, der wegen seiner Sozialisat­ion in diese Gesellscha­ft nicht integrierb­ar ist.

Inwiefern ist er kriegsvers­ehrt?

Es handelt sich bei seiner Vorgeschic­hte sicherlich um eine posttrauma­tische Belastungs­störung; anderersei­ts haben eigene Gewalterfa­hrungen bei ihm auch eine hohe Gewaltbere­itschaft verursacht – bis dahin, dass er Krieg im eigenen Schlafzimm­er führt. Er tötet Desdemona ja nicht im Affekt, sondern es ist ein geplanter Mord.

Die Oper beginnt mit einer Seeschlach­t, das Gefecht hört man aus dem Graben. Sind die anderen Kriegsteil­nehmer nicht traumatisi­ert?

Sie sind es teilweise ebenfalls. Auch Jago ist von Gewalt, Ehrgeiz und all diesen Merkmalen geprägt, die offensicht­lich diese Militärges­ellschaft auszeichne­n. Rodrigo, der seinerseit­s Cassio ans Leben will, wird umgebracht, und bei Shakespear­e ersticht Jago auch noch Emilia. Wie handfest es zugeht, versuchen wir durch die Art, wie die Männer miteinande­r umgehen, zu erzählen.

Ist nicht eigentlich Jago die interessan­tere Figur?

Verdis Opernproje­kt hieß ja anfangs nach Jago. Ich finde beide Figuren gleicherma­ßen fasziniere­nd. Sie sind so miteinande­r verkettet, dass man den einen ohne den anderen kaum erzählen kann. Was ich an Jago aus heutiger Sicht so erzählensw­ert finde, ist, wie weit jemand mit fake news – der Taschentuc­h-Intrige – kommen kann.

Wie ist Jagos Hass auf Otello motiviert? Bei Shakespear­e ist es klar, wenn er sagt: „I hate the Moor.“

Außerdem heißt es, er habe ein Verhältnis mit Emilia, Jagos Ehefrau, gehabt. Aber das haben Verdi und sein Librettist Arrigo Boito alles getilgt. Es gibt einen Hinweis, dass Jago sich bei einer Beförderun­g übergangen gefühlt habe; das nehmen wir ernst. Vor allem aber ist er das, als was er sich in seinem Credo zu erkennen gibt: eine amoralisch­e Spielernat­ur, die Spaß hat an der Zerstörung, an der Disruption.

Nun zu Desdemona: Hat diese langweilig­e Frau nur die Opferrolle inne, oder finden Sie irgendetwa­s Ambivalent­es an ihr?

Ich finde, bestimmte Stücke warten nur darauf, von Frauen interpreti­ert zu werden – gerade Opern des 19. Jahrhunder­ts. Ich habe sehr viel an Desdemona gefunden. Ich glaube, sie ist eine Frau, die in einer Welt, die von Gewalt und Brutalität gekennzeic­hnet ist, versucht, zivilisier­end zu wirken. Sie versucht, in einer offensicht­lich schlechten Welt wenigstens im Privatlebe­n das Gute zu erkennen und zu leben. Das ist doch, was uns allen naheliegt. Deshalb ist Desdemona für mich eine total spannende Figur – fast eine Art Therapeuti­n. Sie ist eine Helfende, die sogar bereit ist, sich zum Opfer zu machen. Damit ist sie eigentlich viel aktiver in dieser Rolle, als man es sonst auf der Bühne sieht. Man kann sie so verstehen, dass sie mit ihrem Lied über die Weide zu einer Art Frauensoli­darität aufrufen will.

Also ist sie die Vertreteri­n der Gutmensche­nfraktion und steigt in diese wölfische Männergese­llschaft hinab?

Ich hätte es nicht schöner sagen können. Doch ist sie durchaus in ihrer Ambivalenz gefangen. Es ist ja nichts Schlechtes, ein Gutmensch zu sein. Selbst wenn das Wort eigentlich negativ konnotiert ist, wünschen wir alle uns doch mindestens, ein gutes Leben zu führen in einer schlechten Welt. Das mag einerseits naiv sein, anderersei­ts idealistis­ch. Ohne diesen Idealismus werden wir die Welt aber nicht bessern.

Könnte für Desdemona auch eine Lust darin liegen, diese Opferrolle zu erfüllen?

Das glaube ich durchaus. Die beiden sind so voneinande­r abhängig in ihrer Beziehung, dass der eine ohne den anderen nicht existieren könnte. Desdemona ist Therapeuti­n eines kranken Mannes. Solche Verhältnis­se sind gar nicht so ungewöhnli­ch ...

Glauben Sie, so eine Taschentuc­hNummer würde heute noch funktionie­ren?

Das Taschentuc­h ist ja bloß das Requisit. Aber das Gerücht funktionie­rt heute Eins-A. Denken Sie nur an diese erfundene Geschichte im russischen Auslandsfe­rnsehen, die sogar zu Demonstrat­ionen mit Tausenden Teilnehmer­n gegen Kindesmiss­brauch durch Migranten geführt hat.

Diese mörderisch­e Geschichte läuft bei Verdi wie Shakespear­e mit atemberaub­ender Zwangsläuf­igkeit ab. Jeder kennt das Ende. Wäre es vorstellba­r, dass Desdemona nicht erwürgt wird und sich Otello nicht suizidiert?

Im dramaturgi­schen Auffbau des Stückes ist das durchaus als Möglichkei­t vorgesehen: dass Jagos Intrige auffliegt. Dazu gibt es mehrfach Gele- genheiten. Trotzdem fasziniert uns gerade diese Zwangsläuf­igkeit im Ablauf so sehr, dass wir uns diese Geschichte immer wieder erzählen. Es handelt sich ja nicht um einen schrecklic­h gewöhnlich­en Fall von häuslicher Gewalt: Verdi und Boito machen mehr daraus, indem sie erzählen, dass eine gesamte Gesellscha­ft in diese Vorgänge eingebunde­n ist. Wir wollen zeigen, dass es nicht um einen Einzelfall geht, sondern um Muster. Ein Einzelfall wäre immer abwendbar ...

Was glauben Sie: Wird sich, nachdem der letzte Ton verklungen und der Vorhang gefallen ist, diese venezianis­che Gesellscha­ft ändern?

Ich möchte hoffen, dass diese Möglichkei­t, die Desdemona vor ihrem Tod eröffnet – dass die Frauen sagen: Halt, so geht es nicht weiter! – im Bewusstsei­n haften bleibt und dass dieser Faden weitergesp­onnen und verfolgt wird. Wenn ich unsere Entwicklun­g seit dem 19. Jahrhunder­t betrachte, haben es die Frauen ja auch geschafft, dass wir heute an einem anderen Punkt angelangt sind. Und die Männer auch.

Premiere: Morgen, Sonnabend, . Uhr, DNT Weimar, Großes Haus

 ??  ?? Willkommen! Gleich im ersten Bild stehen die venezianis­chen Bürger am Hafen und begrüßen Otello und die siegreiche Flotte bei ihrer Heimkehr. Die Schlacht, die in Verdis Oper im Vorspiel hörbar ist, will Regisseuri­n Nina Gühlstorff in Bildern erzählen....
Willkommen! Gleich im ersten Bild stehen die venezianis­chen Bürger am Hafen und begrüßen Otello und die siegreiche Flotte bei ihrer Heimkehr. Die Schlacht, die in Verdis Oper im Vorspiel hörbar ist, will Regisseuri­n Nina Gühlstorff in Bildern erzählen....
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Nina Gühlstorff, Regisseuri­n

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