Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Expressionismus trifft Pop-Art
Mit einer hochkarätigen Schau durchschreitet Nordhausens Kunsthaus Meyenburg das 20. Jahrhundert
Nordhausen.
Fünf Rindviecher in weitem Feld, eine Mühle am Horizont: Mit wenigen kräftigen Strichen hielt Emil Nolde „Ruhende Kühe“fest, 1926 in einer Farblithografie.
Sie sorgt derzeit für einen der, subjektiv empfundenen, Höhepunkte im Kunsthaus Meyenburg. Doch ihrem Schöpfer wird auch Kontra gegeben. An einer Wand liest man die Lästerei des Zeitgenossen George Grosz, der zufolge man gelegentlich unartigen Kindern drohte: „Du, ich sag’s dem Nolde, der holt dich sofort ab und schmiert dich auf die Leinwand!“
Ein paar Räume weiter, wir sind zur Klassischen Moderne gewandert und haben Joan Mirós zeichenhaft abstrakte „Eidechse mit den Goldfedern“passiert, treffen wir auf Picassos Lebensfrauen: Francoise wird auf der Lithografie von 1946 durch verdichtete abstrakte Formen konkret, das kubistische Porträt Jaquelines entstand zehn Jahre später. Dazu ätzt Max Ernst von der Wand: „Picasso, gegen den kann doch niemand ankommen, der ist doch das Genie.“
Launen des Genies Max Ernst sind im Wortsinn eine Etage tiefer zu bewundern, wo sein kleines großartiges Gemälde „Où naissent les caprices“als einziges etwas aus der chronologischen Hängung tanzt. Denn sein abstrakter Lichtdom in Blau von 1958 lehnt als einziges auch in einer Vitrine, aus Sicherheitsgründen.
Da befinden wir uns gerade auf abstrakt expressionistischen Pfaden Nordamerikas, wie sie auch Ernst inspirierte und wie sie hier unter anderem Sam Francis repräsentiert. Und dann kommt uns der wilde bis aggressive Stil Walter Stöhrers entgegen, von dem es hieß, ihm sei abstrakter Expressionismus zu lyrisch. So durchschreiten wir im Kunsthaus also zum einen mehr als 150 Jahre Kunstgeschichte, von Georg Gmelins Ölbild „Fischerszene im Golf von Sorrent“(1839) bis zu Michael Fischer-Arts buntem „Rocket Man“(2016). Wir bewegen uns dabei im Kern durchs 20. Jahrhundert, das Kunsthauschefin Susanne Hinsching als das spannendste überhaupt beschreibt: „So viele neue Kunststile auf einmal gab’s nie zuvor und wird es auch nie wieder geben.“
Diese tatsächlich auf Spannungen gründende enorme Vielfalt erzählt uns zum anderen aber auch etwas über eine Dialektik der Kunst – über Bewegung und Gegenbewegung, über Anregung und Abgrenzung – vor der wir heute fasziniert und zugleich etwas fassungslos stehen.
Denn in einem Zeitalter, das wenig Neues unter der Sonne hervorzubringen scheint, funktioniert jeder dieser Kunststile, der eine Haltung verkörpert, vor unserem Auge glei- chermaßen. Sie haben sozusagen irgendwie alle recht. Anything goes.
Alle, das meint in diesem Fall 70 Gemälde und Grafiken (sowie ein Objekt) von 42 Künstlern. Dass sie hier unter dem Titel „Aus dem Verborgenen an die Öffentlichkeit“versammelt sind, verweist auf ihre gemeinsame Herkunft. Sie stammen aus einer über 2000 Werke umfassenden und ein wenig willkürlich zu- sammengetragenen Kunstsammlung eines Versicherungskonzerns: der Talanx und der darin aufgegangenen Gerling-Gruppe (HDI).
Von einer ungeordneten Präsentation in Leuna abgesehen, wird die Sammlung in Nordhausen erstmals öffentlich. Eine Kölner Kunsthistorikerin, die sie betreut, wählte dafür 90 Werke aus, zu denen sich Susanne Hinsching eine Konzeption einfallen ließ: eine Zusammenstellung nach kunstgeschichtlichen Epochen, die Vergleiche ermöglicht.
So können nun sehr bekannte Künstler mit zum Teil weniger bekannten Bildern zu schönen Entdeckungen nach Nordhausen locken: in eine den Werten nach sehr teure Ausstellung, die das Kunsthaus jedoch nichts kostet. Allein schon die Versicherungssumme hätte man sich gar nicht leisten können. Doch tritt der Sammler auch als Sponsor auf.
Den Klassiker der Gegenüberstellung, wie er zuletzt in Berlin und auch in Nordhausen bereits ausführlich zu erleben war, finden wir gleich zu Beginn: Ein expressionistisch kantiges München-Bild von Raoul Dufys (1909) trifft auf eine flirrend impressionistische Abendszene mit Lichtspiegelungen aus Berlin, Lesser Urys „Die nasse Straße“, ungefähr zur gleichen Zeit entstanden.
Dialektik der Kunst: Anregung und Abgrenzung
Lauter Zirkusmotive großer Künstler folgen im Herbst
Wir erinnern uns, dass Bauhäusler alles andere als einen einheitlichen Stil pflegten, wenn wir Paul Klees filigrane Federzeichnung „Porto Ferraio“und Oskar Schlemmers „Konzentrische Gruppe“in Öl betrachten.
Eine Zeitgenossin dazu stellt Edvard Munchs Kreidelithografie „Liegender Halbakt“dar, auch so ein Höhepunkt der Schau: eine Frau in der Landschaft, mit der ihr langes Haar sich verbindet, zu der sie selbst wird.
Das alles finden wir im Obergeschoss, das wir irgendwann mit einem abstrakt-expressionistischen Farbflächen-Gemälde von Ernst Wilhelm Nay hinter uns lassen: „Weißfiguration und Blau“, anno 1967.
Wir steigen hinab zur nächsten Gegenbewegung, auf die man bereits stößt, wenn man das Haus betritt: auf Pop-Art und Andy Warhol. Da hängen seine Siebdruck-Porträts der Schauspielerin Janet Villella (1979). Dem Konkreten folgt wieder Abstraktes: mit optischen Täuschungen des Op-Art-Künstlers Victor Vasarely. „Drei Drahtseilartisten mit Springseil und Schirmen“übrigens, eine Kaltnadelradierung des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchners, sind zwischendurch zugleich kühn geschwungene Vorboten der großen Herbstausstellung im Kunsthaus Meyenburg: mit lauter Zirkusbildern. Ein privater Sammler trug zum Thema 900 Werke zusammen.
Zu sehen noch bis zum . Juni.