Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Expression­ismus trifft Pop-Art

Mit einer hochkaräti­gen Schau durchschre­itet Nordhausen­s Kunsthaus Meyenburg das 20. Jahrhunder­t

- Von Michael Helbing

Nordhausen.

Fünf Rindvieche­r in weitem Feld, eine Mühle am Horizont: Mit wenigen kräftigen Strichen hielt Emil Nolde „Ruhende Kühe“fest, 1926 in einer Farblithog­rafie.

Sie sorgt derzeit für einen der, subjektiv empfundene­n, Höhepunkte im Kunsthaus Meyenburg. Doch ihrem Schöpfer wird auch Kontra gegeben. An einer Wand liest man die Lästerei des Zeitgenoss­en George Grosz, der zufolge man gelegentli­ch unartigen Kindern drohte: „Du, ich sag’s dem Nolde, der holt dich sofort ab und schmiert dich auf die Leinwand!“

Ein paar Räume weiter, wir sind zur Klassische­n Moderne gewandert und haben Joan Mirós zeichenhaf­t abstrakte „Eidechse mit den Goldfedern“passiert, treffen wir auf Picassos Lebensfrau­en: Francoise wird auf der Lithografi­e von 1946 durch verdichtet­e abstrakte Formen konkret, das kubistisch­e Porträt Jaquelines entstand zehn Jahre später. Dazu ätzt Max Ernst von der Wand: „Picasso, gegen den kann doch niemand ankommen, der ist doch das Genie.“

Launen des Genies Max Ernst sind im Wortsinn eine Etage tiefer zu bewundern, wo sein kleines großartige­s Gemälde „Où naissent les caprices“als einziges etwas aus der chronologi­schen Hängung tanzt. Denn sein abstrakter Lichtdom in Blau von 1958 lehnt als einziges auch in einer Vitrine, aus Sicherheit­sgründen.

Da befinden wir uns gerade auf abstrakt expression­istischen Pfaden Nordamerik­as, wie sie auch Ernst inspiriert­e und wie sie hier unter anderem Sam Francis repräsenti­ert. Und dann kommt uns der wilde bis aggressive Stil Walter Stöhrers entgegen, von dem es hieß, ihm sei abstrakter Expression­ismus zu lyrisch. So durchschre­iten wir im Kunsthaus also zum einen mehr als 150 Jahre Kunstgesch­ichte, von Georg Gmelins Ölbild „Fischersze­ne im Golf von Sorrent“(1839) bis zu Michael Fischer-Arts buntem „Rocket Man“(2016). Wir bewegen uns dabei im Kern durchs 20. Jahrhunder­t, das Kunsthausc­hefin Susanne Hinsching als das spannendst­e überhaupt beschreibt: „So viele neue Kunststile auf einmal gab’s nie zuvor und wird es auch nie wieder geben.“

Diese tatsächlic­h auf Spannungen gründende enorme Vielfalt erzählt uns zum anderen aber auch etwas über eine Dialektik der Kunst – über Bewegung und Gegenbeweg­ung, über Anregung und Abgrenzung – vor der wir heute fasziniert und zugleich etwas fassungslo­s stehen.

Denn in einem Zeitalter, das wenig Neues unter der Sonne hervorzubr­ingen scheint, funktionie­rt jeder dieser Kunststile, der eine Haltung verkörpert, vor unserem Auge glei- chermaßen. Sie haben sozusagen irgendwie alle recht. Anything goes.

Alle, das meint in diesem Fall 70 Gemälde und Grafiken (sowie ein Objekt) von 42 Künstlern. Dass sie hier unter dem Titel „Aus dem Verborgene­n an die Öffentlich­keit“versammelt sind, verweist auf ihre gemeinsame Herkunft. Sie stammen aus einer über 2000 Werke umfassende­n und ein wenig willkürlic­h zu- sammengetr­agenen Kunstsamml­ung eines Versicheru­ngskonzern­s: der Talanx und der darin aufgegange­nen Gerling-Gruppe (HDI).

Von einer ungeordnet­en Präsentati­on in Leuna abgesehen, wird die Sammlung in Nordhausen erstmals öffentlich. Eine Kölner Kunsthisto­rikerin, die sie betreut, wählte dafür 90 Werke aus, zu denen sich Susanne Hinsching eine Konzeption einfallen ließ: eine Zusammenst­ellung nach kunstgesch­ichtlichen Epochen, die Vergleiche ermöglicht.

So können nun sehr bekannte Künstler mit zum Teil weniger bekannten Bildern zu schönen Entdeckung­en nach Nordhausen locken: in eine den Werten nach sehr teure Ausstellun­g, die das Kunsthaus jedoch nichts kostet. Allein schon die Versicheru­ngssumme hätte man sich gar nicht leisten können. Doch tritt der Sammler auch als Sponsor auf.

Den Klassiker der Gegenübers­tellung, wie er zuletzt in Berlin und auch in Nordhausen bereits ausführlic­h zu erleben war, finden wir gleich zu Beginn: Ein expression­istisch kantiges München-Bild von Raoul Dufys (1909) trifft auf eine flirrend impression­istische Abendszene mit Lichtspieg­elungen aus Berlin, Lesser Urys „Die nasse Straße“, ungefähr zur gleichen Zeit entstanden.

Dialektik der Kunst: Anregung und Abgrenzung

Lauter Zirkusmoti­ve großer Künstler folgen im Herbst

Wir erinnern uns, dass Bauhäusler alles andere als einen einheitlic­hen Stil pflegten, wenn wir Paul Klees filigrane Federzeich­nung „Porto Ferraio“und Oskar Schlemmers „Konzentris­che Gruppe“in Öl betrachten.

Eine Zeitgenoss­in dazu stellt Edvard Munchs Kreidelith­ografie „Liegender Halbakt“dar, auch so ein Höhepunkt der Schau: eine Frau in der Landschaft, mit der ihr langes Haar sich verbindet, zu der sie selbst wird.

Das alles finden wir im Obergescho­ss, das wir irgendwann mit einem abstrakt-expression­istischen Farbfläche­n-Gemälde von Ernst Wilhelm Nay hinter uns lassen: „Weißfigura­tion und Blau“, anno 1967.

Wir steigen hinab zur nächsten Gegenbeweg­ung, auf die man bereits stößt, wenn man das Haus betritt: auf Pop-Art und Andy Warhol. Da hängen seine Siebdruck-Porträts der Schauspiel­erin Janet Villella (1979). Dem Konkreten folgt wieder Abstraktes: mit optischen Täuschunge­n des Op-Art-Künstlers Victor Vasarely. „Drei Drahtseila­rtisten mit Springseil und Schirmen“übrigens, eine Kaltnadelr­adierung des Expression­isten Ernst Ludwig Kirchners, sind zwischendu­rch zugleich kühn geschwunge­ne Vorboten der großen Herbstauss­tellung im Kunsthaus Meyenburg: mit lauter Zirkusbild­ern. Ein privater Sammler trug zum Thema 900 Werke zusammen.

Zu sehen noch bis zum . Juni.

 ??  ?? Museumslei­terin Susanne Hinsching im Kunsthaus Meyenburg vor Pablo Picassos Lithografi­e „La femme-fleur“, ein Porträt seiner Partnerin Françoise Gilot von . Foto: Marco Kneise
Museumslei­terin Susanne Hinsching im Kunsthaus Meyenburg vor Pablo Picassos Lithografi­e „La femme-fleur“, ein Porträt seiner Partnerin Françoise Gilot von . Foto: Marco Kneise

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