Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
So schlimm sind Unfall-Bilder im Internet für die Angehörigen
Notfallseelsorger schlägt Alarm. Immer öfter sind Fotos von Verunglückten im Netz zu sehen – bevor offiziell über das Geschehene informiert werden kann
Erfurt.
Wenn Unglücke passieren, kursieren oft schon kurz danach erste Bilder im Internet. Thüringens Landespolizeipfarrer Karl-Josef Wagenführ, der als Notfallseelsorger Polizisten beim Überbringen von Todesnachrichten begleitet, ist deshalb alarmiert.
Bilder von Unfällen und Katastrophen verbreiten sich im Internet schnell. Wirkt sich das auf Ihre Arbeit als Notfallseelsorger aus?
Wenn wir Hinterbliebenen eine Todesnachricht überbringen müssen, wissen sie es mitunter schon. Es passiert nicht selten, dass sie sagen: Wir haben die Bilder schon im Internet gesehen. Sie warten eigentlich nur noch auf die Bestätigung durch uns. Das Problem für den Notfallseelsorger ist, dass wir zu Gehetzten werden. Wir haben wegen dieser Fotos im Netz kaum noch Zeit, die wir aber brauchen. Die Identität von Toten muss vorher zweifelsfrei feststehen, bevor wir Hinterbliebene aufsuchen. Wir müssen sauber arbeiten. Wir werden aber von den sozialen Medien überholt.
Was macht das mit den Angehörigen?
Wir treffen sie in einem Zustand an, den man keinem Menschen wünscht. Sie haben die schrecklichen Bilder gesehen, hoffen aber, dass er oder sie doch noch lebt. Das ist grausam. Das macht unsere Arbeit deutlich schwerer. Normalerweise treffen wir Hinterbliebene unvermittelt an. Wir können so besser auf den Menschen eingehen. Wenn er schon eine Stunde und länger in einer wahnsinnigen Angst gelebt hat, geht der Mensch mit solchen Ereignissen ganz anders um.
Wer verbreitet solche Bilder?
Das ist ganz verschieden. Manchmal sind es Personen, die zufällig an Unfallorten vorbeikommen und kurz filmen. Viele treibt an: Ich weiß etwas und möchte mich dadurch ganz wichtig machen. Es geht nicht so sehr darum, das Ereignis zu schildern, was hier passiert ist, sondern zu sagen: Guckt mal, was ich gesehen und erfahren habe. Das ist pietätlos. Landespolizeipfarrer Karl-Josef Wagenführ, der als Notfallseelsorger Polizisten beim Überbringen von Todesnachrichten begleitet
Damit sind doch Grenzen überschritten, oder?
Die Frage ist, in welcher Situation möchte ich gefilmt oder gezeigt werden? Wenn ich meine Selbstkontrolle verliere, möchte ich das sicherlich nicht – zum Beispiel wenn jemand verletzt ist oder bei Todesfällen. Gerade dort, wo ich nicht mehr mitbestimmen kann, schmerzen solche Fotos richtig – sei es für die Person selbst oder für ihre Angehörigen. In solchen Fällen müsste das Filmen grundsätzlich verboten sein.
Brauchen wir einen neuen Verhaltenskodex?
Das wäre angebracht. Wir haben für unser Zusammenleben Verhaltensregeln. Natürlich hat jede Zeit ihre Herausforderungen. Für uns sind es die sozialen Medien, die für eine unheimliche Informationsflut sorgen und an denen sich jeder beteiligen kann. Wo Menschen miteinander umgehen, braucht es Regeln, die allerdings nicht immer eingehalten werden. Du sollst nicht lügen, ist ein altes Gebot – und trotzdem lügen Menschen immer noch.
Sollten Bilder von Katastrophen oder von verunglückten Autos mit Rücksicht auf die Angehörigen generell nicht mehr gezeigt werden?
Das ist schwierig. Autos, zerstörte Häuser kann man ohne Weiteres zeigen. Für Angehörige ist es zunächst ein wahnsinniger Schock, den sie verarbeiten müssen. Dann kommt auch die Wut über solch ein Ereignis hoch. Ich weiß nicht, ob Fotos generell der Abschreckung dienen: Bilder auf Zigarettenschachteln tragen auch nicht dazu bei, dass deutlich weniger rauchen. Zur Prävention sollten Fotos von verunfallten Autos dennoch eingesetzt werden. Sie zeigen, was passieren kann, wenn man zu schnell fährt.
Was fordern Sie?
Man sollte mit Bildern sorgsam umgehen. Wir dürfen den Respekt vor den Menschen nicht verlieren. Das wird oft vergessen. Es wird immer anonymer. Je anonymer es wird, desto mehr scheint mir erlaubt zu sein. Desto mehr werden Dinge der Menschlichkeit zurückgedrängt. Die empfindliche Seele des Menschen, die durch ein tragisches Ereignis ohnehin verwundet ist, wird durch solche Bilder umso heftiger in Mitleidenschaft gezogen. (dpa)
„Wir haben wegen dieser
Fotos im Netz kaum noch Zeit.“