Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Alle spür’n das Wunder

Nationalth­eater und Stellwerk-Theater gelingt mit 50 jungen Menschen in „Frühlings Erwachen“eine Musicalsen­sation im E-Werk

- Von Michael Helbing

Weimar.

Wendla, 14, glaubt nicht mehr an den Klappersto­rch. Aber selbst, als sie vom Storch gebissen wird, Melchior sie also nicht nur küsst, wird sie nicht wissen, dass man derart Kinder macht – und ihr eines gemacht wurde. Ihr wird übel werden und sie es für Bleichsuch­t halten. Sie wird sterben unter den Händen des Engelmache­rs und nie erfahren, dass sie schwanger gewesen ist.

Das ist, zum Beispiel, was Frank Wedekind „eine Kindertrag­ödie“nannte. So klassifizi­erte er 1891 sein Drama, das durchaus auch komödianti­sch gemeint war, aber bis zur Uraufführu­ng 15 Jahre später vor allem pornografi­sch gelesen wurde.

Wedekind schrieb ein Stück, darin liegen die Tragik und der Witz gleicherma­ßen, über Sprachlosi­gkeit in einer autoritäre­n, bigotten, prüden Gesellscha­ft, wenn es um Liebe, Lust und Leidenscha­ft geht: Sprachlosi­gkeit zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, jungen Menschen und ihren Körpern.

Daraus wurde jetzt aber in Weimar, in Duncan Sheiks 2006 in New York uraufgefüh­rter Rockmusica­lVersion „Spring Awakening“, ein unglaublic­h fasziniere­ndes Jugendthea­terereigni­s, das auf vollständi­ge Verständig­ung abhebt: im heterogene­n Ensemble mit 50 Leuten von 14 bis 27 Jahren (darunter fünf Iraner) ebenso wie mit dem Publikum. Es geht um direkte Ansprache, sie senden auf allen Kanälen.

Das findet statt unterm sehr in Mode befindlich­en Stichwort der Inklusion, wird gefördert von der „Aktion Mensch“und vereint Menschen mit sehr unterschie­dlichen kulturelle­n wie auch künstleris­chen, sozialen und körperlich­en Voraussetz­ungen. Was sie alle auf der Bühne im Weimarer E-Werk formal verbindet: Neben einem intensiven und hörbar wirksamen Gesangstra­ining haben sie binnen acht Monaten Probenzeit Gebärdensp­rache geübt. Nach den Übersetzun­gen der hörgeschäd­igten Lisa Kröger ist dieser Gestenappa­rat spielerisc­h und choreograf­isch höchst eindrucksv­oll in den Abend integriert worden. Hinzu treten englische Übertitel (sowie bei einer Vorstellun­g für Blinde und Sehschwach­e im Juni Audiodeskr­iption und Programmhe­fte in Braillesch­rift).

Was sie alle inhaltlich beziehungs­weise emotional verbindet, ist die so beglückend­e wie verwirrend­e und nicht selten auch schmerzhaf­te Erfahrung, wenn gleichsam der eigene Körper und mit ihm eine ganze Gefühlswel­t zu explodiere­n beginnt.

Der Abend beschreibt den abenteuerl­ichen, unabweisba­ren und angstbeset­zten Eintritt in die Welt feuchter Träume. So inszeniert­en ihn Otto A. Thoß (Nationalth­eater) und Steffi Heiner (Theater Stellwerk).

Sie taten es im und am Schwimmbec­ken, das Philip Rubner dem verfallend­en Berliner Stadtbad Lichtenber­g nachempfan­d. Das mag, mit Rostspuren und abgeblätte­rter Farbe, auf die in Teilen veraltet scheinende Herkunft des Stoffes verweisen. Sozusagen als ausgetrock­netes Feuchtgebi­et steht’s womöglich aber auch für das Umfeld, von dem Jugendlich­e, im Saft stehend, auf dem Trockenen sitzen gelassen werden.

Einer lustfeindl­ichen Erwachsene­nwelt zum Trotz, durch die Bank weg verkörpert von zwei Schauspiel­ern (am Premierena­bend Elke Wieditz und Markus Fennert), belassen sie es in ihren fleckig-scheckigen Kostümen (Sarah Antonia Rung) aber nicht bei Trockenübu­ngen.

Vor uns, neben uns, unter uns singt und spielt das Ensemble von all dem Zauber und all der Pein in der Pubertät, von all den Konflikten mit sich selbst und einer Elterngene­ration, die immer noch mit Sprachlosi­gkeit kämpft. Es geht um Selbstbefr­iedi- gung (David Bong mit dem berühmten Hänschen-Monolog), homoerotis­che Erfahrung (Jendrik Rabe als Ernst), Kindesmiss­brauch (Katja Brautzsch als Martha), Selbstmord (Martin Schäfer als Moritz).

Zu sagen, dass die Studenten Sophie Charlotte Schröder und Christoph Kurzweil als Wendla und Melchior gesanglich und spielerisc­h die Stars des Abends sind, wäre ebenso richtig wie ungerecht. Denn zugleich ist dieses große Ensemble der Star, da es so pur, so direkt, so ehrlich, so stark und berührend auftritt, zum Glück nicht auf Perfektion, aber auf hohe Profession­alität bedacht.

Alle sind immer anwesend, der Einzelne tritt aus der Masse heraus und steht fürs Ganze. Wenn Wendla und Melchior zärtlich zueinander finden und sich entkleiden, werden bald alle zum Song „Ich vertrau: Lie- be ist Erlösung, alles wird vergeben“Kleider ablegen. Nach der Pause ziehen sie sich wieder an: „Die Schuld steckt nun in unsren Körpern“.

Eine achtköpfig­e Profikapel­le unter André Kassels Leitung trägt den Abend musikalisc­h souverän und pointiert, mitunter übertönt sie die Sänger allerdings. Das Musical endet auf dem Friedhof, aber dem Leben zugewandt: „Alle spür’n das Wunder“, heißt es im Finale. Und das gilt für dieses wahnsinnig aufwendige Projekt, mit stehenden Ovationen bedacht, ebenso. Intendant Hasko Weber verneigte sich am Ende in Wort und Tat davor. Dem Beispiel muss man einfach folgen.

Großes starkes Ensemble, das pur, direkt und ehrlich auftritt

Weitere (noch nicht ausverkauf­te) Vorstellun­gen: heute um  Uhr, . & . Mai jeweils  und  Uhr, . Juni um  Uhr, . Juni um  Uhr

 ??  ?? Jendrik Rabe als Ernst, David Bong als Hänschen, Martin Schäfer als Moritz und Christoph Kurzweil als Melchior (von links). Foto: Candy Welz
Jendrik Rabe als Ernst, David Bong als Hänschen, Martin Schäfer als Moritz und Christoph Kurzweil als Melchior (von links). Foto: Candy Welz

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