Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Im Schatten der Attentate
Wie in Weimar afghanische Schauspieler für ein internationales Theaterprojekt proben und Kunst im Ausnahmezustand geht: eine Begegnung
Ein Video, aufgenommen im französischen Kulturzentrum in Kabul: Männer liegen ausgestreckt auf der Bühne. Von einem Pult rezitiert ein Mann im monotonen Singsang einen Text. Das Stück heißt „Herzschlag – Die Stille nach der Explosion“, es geht um Selbstmordattentate. Ein Mann spielt ein Instrument, sein Klang schwillt an, bedrohlich, sirenenhaft bleibt er im Raum hängen.
Plötzlich ist ein dumpfer Knall zu hören, eine Rauchsäule im Zuschauerraum, Schreie, dann erlischt das Bild.
Das ist nicht Teil der Inszenierung. Ein Selbstmordattentäter hatte sich in die Luft gesprengt. Mitten unter den Zuschauern.
Theater soll das Leben spiegeln. In jener Vorstellung hatte die afghanische Realität die Rollen getauscht. Brutal, erbarmungslos.
Nur kurze Zeit später hatten sich die Taliban zu dem Anschlag bekannt. Die Theateraufführung habe islamische Werte entweiht und Propaganda gegen den Dschihad betrieben. Der Attentäter, hatte später der Kabuler Polizeichef verkündet, war ein Teenager.
Sulaiman Sohrab Salem stand damals mit seiner Truppe „Azdar“auf der Bühne. Es war die Premiere und gleichzeitig die letzte Vorstellung. Sie hatten, erinnert er sich, damals auch viel Solidarität erfahren. Macht weiter, jetzt erst recht, wurde ihnen gesagt. Wir fühlten uns ermutigt, sagt er. Aber wir wollten nicht das Leben unserer Zuschauer aufs Spiel setzen.
Das war vor zweieinhalb Jahren. Und jetzt sind sie hier, proben ein Stück, dass sie so in Afghanistan nie spielen könnten. Oder nicht wagen könnten, es zu spielen.
Als Teil einer internationalen Truppe, werden sie Ende August im DNT „Malalai – die afghanische Jungfrau von Orleans“auf die Bühne bringen. Regisseur Robert Schuster spricht von einem trinationalen Stoff, der hier ausgelotet wird: Die französische Legende der Jeanne d‘Arc, das deutsche Drama von Schiller und der afghanische Mythos von der paschtunischen Sanitäterin Malalai, die im Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Kolonialmacht die Afghanen zum Sieg führte.
Frauen als nationale Freiheitsikonen, oder Gotteskriegerin – je nach dem, wer ihn aufgreift, sich auf ihn beruft, instrumentalisiert. Ein aufladbarer Stoff, ein vielschichtiger und ein sehr gegenwärtiger. Mit Blick auf die Künstler erst recht: Sie kommen aus Afghanistan, Frankreich, Deutschland, Israel. Hier hat jeder andere Lebenswirklichkeiten im Rücken, die ihr Spiel bricht.
Für den Regisseur ist es eine wichtige Erfahrung was passiert, wenn Schauspieler mit so verschiedenen kulturellen Hintergründen auf der Bühne zusammenkommen.
Eigentlich sollten die Schauspieler schon im Vorjahr in der Kunstfest-Produktion „Kula – nach Europa“mitwirken.
Aber das ist keine afghanische Geschichte, sondern eine sehr deutsche. Die Bundesbehörden hatten ihnen die Visa versagt, weil sie an einer Rückreise der Afghanen zweifelten. Dass sie in diesem Jahr kommen durften, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass sich Menschen fanden, die bereit waren, eine Bürgschaft zu unterschreiben. Im Probenraum wirbeln Stöcke durch die Luft, asiatischer Kampfkunst gleich. Angriff, Verteidigung, der tödliche Stoß. Die Choreografie eines Kampfes auf Leben und Tod. Homan Wesa versetzt eine dünne Metallplatte in Schwingungen, der lauernde Ton ihrer Vibration ist die Musik dazu. Dann kauert Said Edris Fakhri auf dem Boden und fleht als britischer Soldat Montgomery um sein Leben. Er spricht sei- nen Text in Farsi, die Israelin Hadar Dimand antwortet als Johanna in Hebräisch.
Frauen, die Männer in die Schlacht führen. Männer, die vor ihnen besiegt werden. Weibliche Emanzipation und männli- che Schwäche. Mythen, die im Namen von Nationalismen und Glauben benutzt werden. Religiöse Dogmen und politische und wie der zerriebene Mensch dazwischen. – Sich damit zu befassen ohne Beschränkung, oh- ne Angst, sei eine unglaublich reiche Erfahrung, sagt Sulaiman Sohrab Salem.
Probenpause, wir sitzen auf der Terrasse, Zeit für ein Gespräch über Theater im Ausnahmezustand. Was zeigen sie? Schwere Stücke, die das Leben im Kriegszustand spiegeln? Oder ist es genau umgekehrt und Theater ein Ort, wo die Schwere ausgeblendet werden darf, bis sich der Vorhang wieder senkt? Beides stimmt. Sie spielten politische Stücke, Dramen Komödien. Sulaiman Sohrab Salem und Abdul Mahfoz Nejrabi erzählen von Auftritten in Kellerräumen und billigen Absteigen, weil sich die Truppe nichts anderes leisten kann. Sie sind nicht die einzige Truppe, es gibt nur ein staatliches Theater in Kabul. Du kannst, sagen sie, in Afghanistan von Kunst nicht leben. Die Menschen meiden öffentliche Zusammenkünfte. Erst recht, wenn es um Kunst geht. Kunst ist freies Denken. Die Taliban hassen die Kunst. Und jeder weiß, was das bedeuten kann.
Nationale Mythen, Dogmen und Fanatiker
Wie sollen sie sich nach Kunst sehnen?
Sie arbeiten beide in einer Kulturbehörde in Kabul. Tagsüber das Büro, am Abend Proben und Auftritte. Sie nehmen kein Geld vom Publikum, Hauptsache spielen.
Und selbst das ist Vergangenheit. Seit dem Attentat im französischen Kulturzentrum sind sie überhaupt nicht mehr aufgetreten. Die Angst ist zu groß. Das Szenenvideo, mit dem sie sich für das Weimarer Projekt bewarben, haben sie vor einem leeren Zuschauerraum aufgenommen.
Vor der Premiere von „Herzschlag“hatten sie in der Stadt auf Plakaten dafür geworben. Das Thema war eindeutig. Die Taliban hatten sich nicht gemeldet, es gab keinen Drohbrief, keinen Anruf. Sie haben gleich zugeschlagen.
Der Attentäter hatte sich in die Luft gesprengt, als sie auf der Bühne den ersten Teil spielten. Es ging um das Sterben und den Schmerz der Überlebenden. Im zweiten sollte vom Weiterleben erzählt werden und von Hoffnung. Sie haben es nie zu Ende gespielt.
Alltag im Ausnahmezustand. Verlangt nicht gerade der nach Kunst? Als Ermutigung, als Kontroverse, als Ablenkung, als Trost womöglich? Sehnen sich die Menschen danach?
Sehnen? Suleiman schaut an mir vorbei. Wie denn? In einem Alltag, in dem sich jeder Mensch, wenn er am Morgen das Haus verlässt, fragt, ob seine Familie am Abend noch unversehrt ist und am Leben? Und da soll er sich nach Kunst sehnen?
Leila Khorsandi, die das Gespräch übersetzt, nimmt seine Hände, sie sind eiskalt.
Er spricht jetzt hastig. Die Attentate bestimmen alles. Sie überlagern jeden Gedanken, jede Alltäglichkeit, du kannst dich nie davon freimachen. Wenn ich abends im Bett liege und die Augen schließe, denke ich an Bomben. Wenn mich auf dem Weg zur Arbeit ein Motorrad überholt, frage ich mich: Explodiert es? Beim Essen in der Kantine, im Büro, ständig denke ich: Gleich ist alles vorbei. Bomben, Bomben, Bomben...
Dann Schweigen.
Dann ein Schrei.
Dann geht kein Gespräch mehr.
Leben Sie wohl, sagt er noch.