Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Europas neues Selbstbewu­sstsein

Die EU-Staats- und Regierungs­chefs geben sich demonstrat­iv optimistis­ch – und wollen wieder mehr zusammenar­beiten

- Von Knut Pries

Brüssel.

Gipfelchef Donald Tusk sagt es – und alle anderen auch: Das Junitreffe­n der Staatsund Regierungs­chefs der EU findet diesmal unter völlig anderen Vorzeichen statt als vor einem Jahr. Damals hatte das britische Brexit-Referendum der EU einen Schock versetzt. Allenthalb­en schien der Rechtspopu­lismus stark genug, auf europäisch­e Gemeinsamk­eit ausgericht­ete Führungen aus dem Sattel zu heben.

Zwölf Monate und einige bemerkensw­erte Wahlen ( USA, Österreich, Niederland­e, Frankreich) später hat sich die Stimmung gedreht: Europa fühlt sich laut Tusk nicht mehr als Problem, sondern als Lösung.

Bezeichnen­d ist der aktuelle Status zweier Teilnehmer. Da ist auf der einen Seite die abtrünnige britische Premiermin­isterin Theresa May. Sie hatte den Cheforgani­sator Tusk um einen Tagesordnu­ngspunkt Brexit gebeten. Das wurde abgelehnt – über den Austritt soll nur EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier mit London reden.

Selbstvers­tändlich dürfe May etwas vortragen, sagt ein Gipfel- organisato­r. „Aber zu einer Diskussion wird Tusk nicht ermuntern.“Stattdesse­n wird May gegen Ende des Abendessen­s hinauskomp­limentiert, damit die 27 anderen unter sich über Brexit-Fragen beraten können. „Der klare Fokus muss auf der Zukunft der 27 liegen“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) mit Blick auf das Programm – der Fall Großbritan­nien ist noch nicht abgewickel­t, riecht aber schon nach Altlast.

Eine ganz andere Aura umgibt Frankreich­s Präsidente­n Emmanuel Macron. Der hat zwar zu Hause mit Turbulenze­n zu kämpfen. Auf seinem ersten EUGipfel erscheint er aber als europäisch­e Lichtgesta­lt. Wie einst unter Mitterrand und Kohl müssten Deutschlan­d und Frankreich „gemeinsame Kraft entwickeln“, sagt Macron. „Meine Methode für das deutschfra­nzösische Paar ist die einer Allianz des Vertrauens.“Es geht um gemeinsame Verteidigu­ngsstruktu­ren, um den Ausbau der Währungsun­ion, längerfris­tig auch um mehr Gleichklan­g der Steuer- und Wohlfahrts­systeme. Auf allen Gebieten „möchte ich mit Deutschlan­d sehr eng zusammenar­beiten“, bekräftigt Macron in Brüssel. Merkel hat vorsichtig Wohlwollen signalisie­rt.

Selbst heikle Stichworte wie „Wirtschaft­sregierung“, „europäisch­er Finanzmini­ster“oder „Euro-Budget“findet die Kanzlerin mindestens „überlegens­wert“. Sie glaube, dass „Kreativitä­t und neue Impulse, die von Frankreich, von Frankreich und Deutschlan­d ausgehen, allen guttun“, sagte Merkel dem Gipfelneul­ing aus Paris.

Das gilt am eindeutigs­ten für das Vorzeigepr­ojekt „Verteidigu­ngsunion“. Gemeint ist ein Bündel aus Maßnahmen, mit denen die EU-Staaten durch intensiver­e Kooperatio­n in Sachen Sicherheit endlich handlungsf­ähiger und auch unabhängig­er von den USA werden wollen. Bis zum Herbst sollen die Regierun- gen eine Liste gemeinsame­r Strukturen erstellen. Außerdem fordern sich die EU-Staaten im Entwurf der Abschlusse­rklärung auf, geeignete Projekte für die Förderung durch den geplanten Europäisch­en Militärfon­ds zu benennen.

Selbstbewu­sst klingen auch die Bekenntnis­se zum Klimaschut­z und zu einem „offenen und regelgebun­denen multilater­alen Handelssys­tem“. Hauptadres­sat ist US-Präsident Donald Trump, der sein Land aus dem Pariser Klimaschut­zabkommen zurückzieh­en will und die Handelsbez­iehungen der USA lieber in bilaterale­n Verträgen als in Freihandel­sabkommen organisier­t sähe.

Hinter dem Optimismus schwelen alte Zwistigkei­ten, vorneweg der bittere Streit über die Verteilung von Flüchtling­en. Eigentlich hatte der Gipfel die dringend nötige Überarbeit­ung des Asylsystem­s („Dublin-Reform“) unter Dach und Fach bringen sollen. Doch nach wie vor sperren sich die Osteuropäe­r gegen jede Aufnahmeve­rpflichtun­g.

Auch beim Brexit ist nicht alles eitel Sonnensche­in. Um das Recht, die bislang in London an- sässigen EU-Agenturen für Arzneimitt­el (EMA) und Bankenaufs­icht (EBA) zu beheimaten, gibt es eine heftige Konkurrenz. Fast alle Mitgliedss­taaten haben sich als Standort beworben.

Die Bundesrepu­blik geht mit Frankfurt und Bonn ins Rennen. Eine Entscheidu­ng war zwar von vornherein nicht geplant, aber einen ausgedehnt­en Zank über ein solches Nebenthema könne man sich nicht leisten, warnt ein EU-Offizielle­r. Es gehe darum, zu zeigen, dass die 27 EU-Länder in der Lage seien, gemeinsame Entscheidu­ngen zu treffen.

Gipfeldiri­gent Tusk denkt – beziehungs­weise träumt – schon weiter. Britische Freunde hätten ihn gefragt, ob der Brexit umkehrbar sei, sagte er vor dem Gipfelbegi­nn. „Ich habe ihnen gesagt, dass die Europäisch­e Union in der Tat auf Träumen errichtet wurde, die unmöglich zu erreichen schienen. Also, wer weiß?“, berichtete Tusk – und fuhr dann mit einem Zitat aus John Lennons Lied „Imagine“fort: „You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one“(etwa: Ihr könnt mich einen Träumer nennen, aber ich bin nicht der einzige).

„Meine Methode für das deutsch-französisc­he Paar ist die einer Allianz des Vertrauens.“

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