Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Hoch hinaus mit Transrapid-Technik

ThyssenKru­pp plant einen Aufzug ohne Seil, der auch waagerecht fährt. Ein erstes Projekt ist für Berlin vorgesehen

- Von Björn Hartmann und Ulf Meinke

Rottweil/Berlin.

Für ThyssenKru­pp ist es nichts weniger als die Revolution des Aufzugs. Der Konzern hat ein System entwickelt, das auf Seile verzichtet und stattdesse­n auf eine Technologi­e setzt, die schon die Magnetschw­ebebahn angetriebe­n hat. Der Vorteil: Es können mehrere Kabinen in einem Schacht auf und ab fahren, zudem können sie sich auch waagerecht durch ein Gebäude bewegen. Noch ist der Multi genannte Aufzug im Testbetrie­b, 2020 soll er erstmals fahren – in einem Hochhaus in Berlin.

Derzeit ist Multi vor allem im baden-württember­gischen Rottweil zu sehen. Dort, hinter der historisch­en Altstadt, ragt eine 246 Meter hohe Stahlbeton­säule in die Höhe. Das Bauwerk ist noch nicht ganz fertig, die Außenhaut fehlt noch. Offiziell wird es im Oktober eröffnet, wie dann auch Deutschlan­ds höchste Aussichtsp­lattform auf 232 Metern mit Rundumblic­k auf Schwarzwal­d und Schwäbisch­e Alb. Drinnen testet der Konzern bereits jetzt neue Aufzüge – mit und ohne Seil. Vor allem Letztere soll die Branche mit Unternehme­n wie Otis, Schindler und Kone revolution­ieren, heißt es bei ThyssenKru­pp.

Das Multi-System nutzt eine Technologi­e, die Stadtplane­r und Verkehrsex­perten seit Jahrzehnte­n immer wieder begeistert, bisher aber den Durchbruch nicht so recht geschafft hat: die der Magnetschw­ebebahn Transrapid. Die neuen Kabinen laufen an Schienen entlang. Bewegt werden sie von einem sogenannte­n Linearmoto­r, ein Magnetfeld zieht die Kabinen. Die Schienen lassen sich an bestimmten Stellen des Systems, sogenannte­n Exchangern, um 90 Grad drehen, sodass die Kabinen dann waagerecht fahren können. Beim Multi bewegt sich zudem nicht nur eine Kabine pro Schacht auf und ab, stattdesse­n zirkuliere­n viele Kabinen unabhängig voneinande­r.

„Wir sind durch diese Innovation­en nun in der Lage, unsere Industrie voranzubri­ngen und zu transformi­eren“, sagt Andreas Schierenbe­ck, Chef der Aufzugspar­te von ThyssenKru­pp. Mehr als die Hälfte der Weltbevölk­erung lebe in Städten – und der Trend werde sich fortsetzen. Die Zahl der Hochhäuser werde also steigen. Die Multi-Technologi­e benötige weniger und kleinere Schächte als konvention­elle Systeme. Das bedeutet: Es bleibt mehr Platz für Wohn- und Büroraum, was die Gebäudeent­wickler und Investoren freut.

Auch Wartezeite­n an den Aufzügen will ThyssenKru­pp verringern. Mithilfe des Multi können im Vergleich zu klassische­n Anlagen nach Angaben des Unternehme­ns bis zu 50 Prozent mehr Menschen transporti­ert werden. Zudem kommt das System mit weniger Fläche aus und verbraucht weniger Strom. Und: Anders als für seilgetrie­bene Aufzüge gibt es keine technische Höhengrenz­e für Multi. Bei gut 600 Metern Schachthöh­e ist bisher Schluss – das Seil würde zu sehr schwingen oder wegen seines Gewichts reißen.

Ganz so hoch ist das erste Gebäude, in dem der neuartige Aufzug fahren soll, nicht. Das nie-

derländisc­he Immobilien­unternehme­n OVG Real Estate plant im Berliner Bezirk Friedrichs­hain den 140 Meter hohen East Side Tower. Der Turm soll rund 300 Millionen Euro kosten und bereits 2020 fertig sein. OVGChef Coen van Oostrom freut sich schon auf die Zusammenar­beit. „Wir beschäftig­en uns konsequent mit intelligen­ten

Technologi­en und Nachhaltig­keit und sind dadurch anderen stets einen Schritt voraus. Die zukunftswe­isende Technologi­e, für die der Multi steht, passt hervorrage­nd zu uns“, sagt er.

Noch fährt Multi in Rottweil nur im Testbetrie­b, selbst Menschen dürfen noch nicht einsteigen. Der TÜV muss das System erst abnehmen, bevor es dann vertiefte Tests geben kann. Die Anlage hat ThyssenKru­pp allerdings nicht nur für Multi gebaut. Dort prüft der Konzern auch weiter konvention­elle Aufzüge. Zwölf Schächte hat der Turm, untersucht werden können auch Hochgeschw­indigkeits­aufzüge, die mit bis zu 18 Metern pro Sekunde unterwegs sind. Für Multi sind drei Schächte reserviert.

Schierenbe­ck nennt das System die „Neuerfindu­ng des Aufzugs“. Er glaubt, dass die neue Technologi­e das alte Seilsystem ablösen wird. Das wäre für die Konzernspa­rte äußerst positiv, auch in finanziell­er Hinsicht. „Eine Reihe von Jahren waren wir eher nicht bekannt für Innovation­en“, sagt der ThyssenKru­pp-Spartenche­f. „Wir haben dann angefangen, genau zu schauen, welche Technologi­en für die Zukunft urbaner Mobilität Erfolg verspreche­nd sind.“

„Zwei bis vier Prozent unseres jährlichen Umsatzes gehen in Forschung und Entwicklun­g“, berichtet Schierenbe­ck. Die Entwickler sollen „ausdrückli­ch auf den ersten Blick verrückte Sachen“ausprobier­en, sagt Schierenbe­ck. „Dabei ist völlig okay, wenn die Hälfte der Projekte wieder eingestell­t wird. Aus den anderen 50 Prozent können revolution­äre Entwicklun­gen wie der Multi entstehen.“

In der Aufzugspar­te arbeiten mehr als 50 000 ThyssenKru­ppBeschäft­igte – etwa jeder dritte Mitarbeite­r. In der Stahlspart­e sind es rund 27 000. Im vergangene­n Geschäftsj­ahr trug die Aufzugspar­te mit einem operativen Ergebnis von 860 Millionen Euro weit mehr als die Hälfte zum Konzerngew­inn bei.

 ??  ?? Blick auf den  Meter hohen Turm bei Rottweil, in dem ThyssenKru­pp Aufzüge testet. Foto: Getty
Blick auf den  Meter hohen Turm bei Rottweil, in dem ThyssenKru­pp Aufzüge testet. Foto: Getty
 ??  ?? Die Skizze zeigt, welche Wege die neuen Kabinen in einem Haus nehmen können. Foto: ThyssenKru­pp
Die Skizze zeigt, welche Wege die neuen Kabinen in einem Haus nehmen können. Foto: ThyssenKru­pp

Newspapers in German

Newspapers from Germany