Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Wenn der Rocker die „Schmerzhafte Mutter“trägt
Ulrich Kaufhold schlüpft einmal im Jahr in Anzug und Zylinder, um Teil einer jahrhundertealten Tradition zu sein – der Leidensprozession am Palmsonntag im Eichsfeld
Heiligenstadt. Ulrich Kaufhold ist ein bisschen nervös. „Das bin ich jedes Jahr. Daran haben auch zehn Jahre nichts geändert.“Der Zylinder von 1936 liegt bereit. „Ein Erbstück meines Onkels.“Der schwarze Anzug hängt schon gebügelt am Schrank, die blütenweißen Handschuhe liegen bereit.
Ulrich Kaufhold ist 46 Jahre alt, arbeitet im technischen Bereich bei den Eichsfelder Werkstätten und ist in seiner Freizeit Sänger von Solorot. Auf der Bühne geht es richtig zur Sache, wenn die Metal-Band loslegt. Doch einmal im Jahr erfüllt Ulrich Kaufhold eine Familientradition, die er als große Ehre ansieht: Er ist einer der Träger der „Schmerzhaften Mutter“bei der Heiligenstädter Palmsonntagsprozession. Tausende Gläubige beider Konfessionen kommen jedes Jahr in Heiligenstadt zusammen, um am Sonntag vor der Karwoche an den Leidensweg Jesu zu erinnern. Sechs schwere Bilder werden mitgeführt. Eines davon ist die „Schmerzhafte Mutter“, Maria, die sich voller Leid und Trauer über ihren toten Sohn beugt. Die größte Leidensprozession im deutschsprachigen Raum hat gerade wegen ihrer Einzigartigkeit die Anerkennung als nationales immaterielles Kulturerbe der Unesco bekommen.
Träger zu werden, ist alles andere als einfach. Es ist ein Erbe, das innerhalb der Familien weitergegeben wird. Ulrich Kaufhold hat es von seinem Vater übernommen. Das war 2008. „Er musste sich einer Knieoperation unterziehen. Mit dem Tragen war es vorbei“, erzählt er. Als sein Vater ihn fragte, ob er seinen Platz übernehmen wolle, habe er keinen Augenblick gezögert. „Uli, du bist Klempner und schleppst die Heizkörper bis in den sechsten Stock“, habe er damals zu sich selbst gesagt. Da wird es schon nicht so schlimm werden. „Da hatte ich mich getäuscht.“
180 Kilogramm wiegt die Pietà, die „Schmerzhafte Mutter“. Zehn Träger teilen sich in die Arbeit. Paarweise müssen sie etwa gleich groß sein, damit die Figur nicht ins Schwanken gerät. Die Kleineren vorn, die Größeren am Ende. Ulrich Kaufhold geht in der ersten Reihe links. „Knüppeljungen“stehen bereit, um in den Pausen die Figur abzustützen, die Träger zu entlasten. Auch der Rocksänger war einst einer von ihnen. Die Prozessionsstrecke ist 1,7 Kilometer lang. „Ohne Pausen ist das nicht machbar.“Etwa eineinhalb Stunden benötigt die Prozession mit dem tausendstimmigen Gesang für die Strecke.
An den Palmsonntag 2008, sein erstes Trägerjahr, erinnert er sich wie heute. „Ich war unglaublich Ulrich Kaufhold aufgeregt.“Etwa 1,2 Kilometer ging es, aber auf den letzten 500 Metern zum Freialtar, an dem Andacht und Gebet gehalten werden, wollten die Beine versagen. „Als wir endlich am Altar ankamen, hatte ich das Beten schon erledigt.“
Der Rocker trägt also die „Schmerzhafte Mutter“. „Das beißt sich nicht“, lächelt er. „Auch und gerade nicht im Eichsfeld.“Hier könne man einfach alles machen. „Das Eine schließt das Andere doch nicht aus.“Im Gegenteil.
Das Eichsfeld, so sagt er, werde von außen oft belächelt. „Die Schwarzkittel“, hat er schon oft gehört. Es ärgert ihn. Traditionen seien dazu da, weitergeführt und gelebt zu werden. Und dazu brauche es auch Menschen, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen. „Das tun die Eichsfelder, vielleicht auch gerade aus dem lebendigen Glauben heraus.“Das sei nicht das Allerschlechteste. Vielleicht vor allem deshalb so wertvoll. Die Entwicklung, die das Eichsfeld in den vergangenen 28 Jahren genommen habe, sei zu einem großen Teil gerade aus dieser Bodenständigkeit und Gemeinschaft heraus gelungen, ist er sicher.
70 Träger sind es insgesamt für die sechs Stationen der Leidensprozession. Das Abendmahl wiegt 85 Kilogramm, der Ölberg mit dem Schmuck schon 265 Kilogramm. Die Verspottung, das Kreuz und die Pietà folgen, ehe das 320 Kilogramm wiegende Grabmal die Prozession beschließt. Begleitet wird es von den Rittern zum Heiligen Grab und Heiligenstädter Abiturienten mit brennenden Fackeln.
Ulrich Kaufholds Vater hat diesen Dienst 30 Jahre ausgefüllt. Auch sein Onkel war einer der Träger, der, von dem er den Zylinder bekam; noch immer sind dessen Initialen im Futter eingestickt. Doch wie lange möchte er es tun? „Bis auch meine Knie nicht mehr wollen“, sagt er sofort. So lange er gesundheitlich kann, möchte er das Erbe weitertragen, im wahrsten Sinne des Wortes. „Ob unsere Kinder einmal diese Tradition weiterleben, das sei dahingestellt. Das wird sich noch zeigen.“
Er hofft es. Schließlich ist die Heiligenstädter Leidensprozession immaterielles Kulturerbe und geht bis ins Mittelalter zurück. Nicht nur das, meint auch der promovierte Kirchenhistoriker Torsten W. Müller. Diese Prozession war gerade während der beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ein Ausdruck resistenten, nonkonformen Verhaltens der Eichsfelder gegenüber den Staatsmächten. „Obwohl die Herrscher des Dritten Reiches und der SED-Diktatur keine Konkurrenz in Fragen der Weltdeutung und Sinngebung zuließen, konnte die Prozession stattfinden und ein klares Bekenntnis zum christlichen Glauben demonstrieren“, sagt Müller. Die öffentliche Glaubenskundgebung sei ein stiller Protest gewesen. Die Ersterwähnung der Prozession geht aus einer Aufzeichnung in den Annalen der Jesuiten auf das Jahr 1581 zurück, damals noch am Fronleichnamstag. 1734 erfolgte die Verlegung auf den Palmsonntag. Seit dem Jahr 2000 ist sie ökumenisch.
Es sind nicht nur die Träger, die in der Tradition einen festen Platz haben. Es gibt zahlreiche Helfer für die Vorbereitung. In den Tagen vor dem Leidenszug werden die Bildnisse hergerichtet, gereinigt, kleine Schäden repariert. Die Gewänder sind aus echtem Stoff, außer die der „Schmerzhaften Mutter“. Sie werden gewaschen, frisch gebügelt, Helfer holen Immergrün aus den Wäldern, schmücken die Bildnisse. All das passiert ehrenamtlich. Ordner werden geschult, die Liederhefte zur Not neu gedruckt. Der Freialtar in der Altstadt muss aufgebaut und geschmückt werden. Jeder Handgriff ist präzise, folgt genauen Abläufen und Vorgaben. Und während der Prozession gibt es sogar jemanden, der die Tausende Menschen zählt. Denn die meisten von denen, die am Rand stehen, reihen sich später mit ein.
Es erfüllt Ulrich Kaufhold mit Stolz, einer der Träger und damit ein Teil dieses reichen Erbes zu sein. Aus diesem Stolz rühre auch die Nervosität, die ihn jedes Jahr kurz vor dem Tag befällt und er in Anzug, Zylinder und die Handschuhe schlüpft. Alles muss perfekt sitzen. „Die Leute schauen auf uns.“Und das macht ihn nervöser, als bei einem Konzert auf der Bühne zu stehen, egal vor wie vielen Menschen, immer noch. „Es ist einfach etwas anderes, tieferes.“
Sonntag ist es wieder so weit. Egal, ob es regnet oder schneit – die Prozession wird sich um genau 14 Uhr in der Lindenallee in Bewegung setzen. Mit Ulrich Kaufhold an der „Schmerzhaften Mutter“vorn links.
„„Mit beiden Beinen fest im Leben stehen: Das tun die Eichsfelder, vielleicht auch gerade aus dem lebendigen Glauben heraus.“