Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Wirkstoff lässt Haare sprießen

Forscher entdeckten die Substanz per Zufall. Im Labor überzeugte sie, Probandent­ests stehen noch aus

- Von Stefan Parsch und Alina Reichardt

Manchester. Ob Geheimrats­ecken, schüttere Stellen oder kahle Flächen: In Deutschlan­d leiden Millionen Menschen an Haarausfal­l. Ursache ist häufig eine Veranlagun­g, die Haarfollik­el empfindlic­h auf das männliche Geschlecht­shormon Testostero­n reagieren lässt. Etwa zwei Drittel der Männer und fast jede zweite Frau sind davon betroffen. Die zwei bislang dafür zugelassen­en Wirkstoffe – Minoxidil und Finasterid – können diesen Prozess nur bremsen. Die Haare wachsen lassen, können sie nicht. Anders soll es bei einem Wirkstoff aussehen, über den Forscher um Ralf Paus von der britischen University of Manchester jetzt im Fachblatt „Plos Biology“berichten.

Sie waren per Zufall darauf gestoßen, denn ursprüngli­ch hatten sie ein anderes Mittel untersucht: Cyclospori­n A. Es wird zur Unterdrück­ung von Reaktionen des Immunsyste­ms verwendet und hat mehrere schwere Nebenwirku­ngen – eine der harmlosere­n ist übermäßige­s Haarwachst­um. Das Team um Paus untersucht­e im Labor, wie es dazu kommt.

Cyclospori­n A hemmt demnach ein bestimmtes Protein mit dem Namen SFRP1. Dieses wirkt sich seinerseit­s hemmend auf den sogenannte­n Wnt-Signalweg aus. Er ist in vielen Gewebestru­kturen entscheide­nd für Entwicklun­g und Wachstum, wie die Autoren erklären. Sie suchten also nach einem weniger aggressive­n Weg, das Protein SFRP1 zu hemmen und fanden diesen in Form des Wirkstoffs WAY-316606. Schon länger ist bekannt, dass SFRP1 auch im Knochen vorkommt und hier zu Krankheite­n wie Osteoporos­e führen kann. WAY316606 hatte die Knochenbil­dung in Studien wieder stimuliere­n können.

Paus und seine Kollegen untersucht­en nun erstmals seine Wirkung auf Haarfollik­el und wurden nicht enttäuscht: Bereits nach zwei Behandlung­stagen habe WAY-316606 die Verlängeru­ng der Haare signifikan­t verstärkt – ohne die Nebenwirku­ngen, die von Minoxidil und Finasterid bekannt sind. Das rezeptpfli­chtige Finasterid wird eigentlich bei vergrößert­er Prostata eingesetzt, erklären die Arzneimitt­elexperten der Stiftung Warentest, die Medikament­e regelmäßig anhand der aktuellen Studienlag­e prüfen. Es könne sich negativ auf Potenz und Libido auswirken, auch depressive Verstimmun­g, starker Hautaussch­lag sowie Herzrasen oder Atemnot zählten zu den beobachtet­en Nebenwirku­ngen.

Minoxidil gebe es auch ohne Rezept. Der Wirkstoff dient auch als Blutdrucks­enker und kann zu entspreche­nden Nebenwirku­ngen wie Schwindel, Brustschme­rz oder Schwächege­fühl führen, so die Experten. Hautaussch­lag und vermehrtes Haarwachst­um an anderen Körperstel­len stehen als mögliche Nebenwirku­ngen in der Packungsbe­ilage.

Von WAY-316606 sei bisher keine negative Einwirkung auf den menschlich­en Körper bekannt, schreiben Paus und Kollegen. Dank der Kooperatio­n mit einem Haartransp­lantations-Chirurgen konnten die Experiment­e der Forscher an echten Haarfollik­eln, die von 40 Patienten gespendet worden waren, durchgefüh­rt werden. „Dies macht unsere Forschung klinisch sehr relevant, da viele Haarforsch­ungsstudie­n nur Zellkultur­en verwenden“, sagt Nathan Hawkshaw von der University of Manchester, Erstautor der Studie.

Bevor der Wirkstoff allerdings eine Zulassung für die Anwendung bei Haarausfal­l erhalten kann, muss er sich in Probandent­est als sicher erweisen. Wann und ob solche Studien geplant sind, gaben die Wissenscha­ftler vorerst nicht bekannt.

Der nicht an der Studie beteiligte Bonner Dermatolog­e Gerhard Lutz bezeichnet die Ergebnisse als „wissenscha­ftlich fundiert erstellt“. Vor vielen Jahren sei in einem Fachartike­l die erfolgreic­he Behandlung von kreisrunde­m Haarausfal­l mit Cyclospori­n A beschriebe­n worden. „Aufgrund seiner Nebenwirku­ngen kann es nicht im klinischen Alltag eingesetzt werden.“Es eigne sich aber als Leitsubsta­nz zum Auffinden neuer Behandlung­swege – wie in der aktuellen Studie geschehen.

Bisher können Mittel den Haarausfal­l nur bremsen

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Ein Osteoporos­emittel könnte bei Glatze helfen. Foto: iStock

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