Der Spatz in der Hand
Jeder will es sein, aber jeder versteht etwas anderes darunter. „Konservativ“ist en vogue. Von rechts bis links und über die Gesamtbreite der Mitte streiten Thüringens Politiker über den Begriff „konservativ“und nehmen ihn für sich in Anspruch. Und es ist alles dabei: Das Abdriften ins Völkische bis hin zur Beschwörung einer sozialistischen Solidargemeinschaft. Wird damit der Begriff, der eine Wertewelt beschreibt, nicht sogar entwertet, wenn er sich beliebig interpretieren lässt? Oder ist das Bewahrende womöglich ein prägendes Motiv heutiger Politik, vielleicht sogar Zeitgeist – was wiederum zu der Einschätzung führen könnte, dass der Fortschritt beendet ist. Für die einen dürfte das eine beruhigende, für andere alarmierende Schlussfolgerung sein. In einer kleinen Serie bat die Thüringer Allgemeine im vergangenen Jahr sechs Politiker um ein Statement zu diesem Begriff. Dabei war es wichtig, auch die politischen Ränder auszuleuchten, um ein vollständiges Bild zu bekommen. Während der durchaus bemerkenswerte Beitrag des Linken Bodo Ramelow (ein Linker, der sich selbst als konservativ bezeichnet!) eher hingenommen wurde, verursachte der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke ein mittleres Erdbeben, das bis in die Bundeshauptstadt reichte, wo die linksalternative Tageszeitung taz fragte: Darf man das? Die einen sagen Ja, die anderen Jein. Fakt ist, dass dieser – wie alle anderen Beiträge auch – nun artig auf dem journalistischen Seziertisch liegt, bereit, auseinandergenommen zu werden. Dazu gibt es auch einen Anlass. Menschen aus verschiedenen Bereichen der Thüringer Gesellschaft haben den Faden wieder aufgenommen. Heißt: Es wird weiterdiskutiert. Das heutige Essay ist der Anfang der zweiten Runde. In dem politischen Begriff „konservativ“schwingt immer das Wort „bewahren“mit. Geistesgeschichtlich beinhaltete er zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliches. Mal verband er sich mit der Gegenaufklärung und der Romantik, mal ließ er sich in ein Bündnis mit anti-monarchistischen, mal mit monarchistischen Kräften ein. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg trieb er in völkischem und antisemistischen Gewässern, stellte aber während der NS-Zeit eine wesentliche Triebkraft gegen das Regime dar. Kurz: Konservativ ist nicht konservativ.
Und doch ist den unterschiedlichen Ausprägungen eines gemeinsam. Der Begriff taucht immer dann in den Debatten auf, wenn sich Unsicherheit und Zukunftsängste breit machen – was angesichts der waffenklirrenden und völkerwandernden Epoche, in der wir leben, offenkundig der Fall ist. Trotz eines Wohlstands wie noch nie, trotz einer gesundheitlichen Versorgung wie noch nie, trotz einer Sicherheit wie noch nie (80 Prozent der Deutschen kennen weder Krieg noch Nachkriegszeit): Der Kulturpessimismus wächst. In der Abwägung zwischen Hoffnung und Sorge überwiegt bei vielen Letzteres, was zu einem verstärkten Sicherheitsbedürfnis führt. Der Spatz in der Hand erscheint gewinnbringender als die Aussicht auf die Taube, die auf dem Dach sitzt. In bestimmten Situationen eine nachvollziehbare, eine bewahrende und damit eine konservative Entscheidung. Johannes M. Fischer ist Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen Kriege und Konflikte: Zwar lebt der liberale Westen in einer langanhaltenden Periode des Friedens und des Wohlstands, verwickelt sich aber weltweit zunehmend in diverse Kriege, die für den überwiegenden Teil der Bevölkerung zwar nur in stark abgemilderter Form spürbar sind, aber nahezu tagtäglich über die Medien rezipiert werden. Quasi vor der Haustür Europas löste sich im Nahen Osten ein Staat nach dem anderen auf, was es nichtstaatlichen Akteuren wie der Terrororganisation ISIS leicht machte, ganze Regionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung zählte für 2016 über 400 Konflikte und 19 Kriege weltweit.
Die Flüchtlingskrise: Kriege und Konflikte einerseits, das extreme Wohlstandsgefälle in der Welt andererseits – sie setzen eine in der Welt nie dagewesene Flüchtlingsbewegung in Gang. Der Uno zufolge befinden sich weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Viele rennen, weil es um die nackte Existenz geht. Andere entfliehen der Perspektivlosigkeit im Land. Allgemeingültige Regeln gibt es in einer solchen Situation nicht mehr. Doch, eine gibt es: Rette sich, wer kann. Vor was auch immer.
Terror: Kriege, Armut, Existenzangst, schwache Staaten, Anarchie – daraus besteht seit jeher der Dünger für Terrorismus als politische oder pseudopolitische Spielart der organisierten Kriminalität. Einer in diesem Jahr erschienenen Studie des in Sydney ansässigen Instituts für Wirtschaft und Frieden zufolge ist die Zahl der jährlich zu beklagenden Opfer von Terroranschlägen seit 2011 dramatisch angestiegen. Die Gewalt konzentriert sich auf Länder wie Irak, Afghanistan und Syrien. Meistens sind es Gruppen, die angeben, im Namen Allahs zu töten. Paradoxerweise richtet sich die tödliche Gewalt aber vorwiegend gegen Muslime. Seit 2014 nehmen Terroristen verstärkt europäische Ziele ins Visier. Die Hintergründe der Taten und Täter sind teilweise rätselhaft, die Grenze zwischen politisch-religiöser Motivation und persönlichen psychischen Problemen verschwimmt.
Soziale Unterschiede: Auch wenn Deutschlands Bevölkerung insgesamt in einem nie dagewesenen Wohlstand schwimmt, werden immer mehr Menschen von Abstiegsängsten geplagt. Altersarmut ist für viele eine Gewissheit, die vor allem für Alleinstehende einhergeht mit der Angst vor Einsamkeit. „Der Mittelstand rutscht ab“könnte fast schon als geflügeltes Wort gelten, so oft tauchte er in den vergangenen Jahren als Neuigkeit auf, obwohl die Schlagzeile tatsächlich nur einen schleichenden Prozess benennt, der schon seit Langem anhält. Das lässt sich an konkreten Biografien festmachen, aber auch an Statistiken: Die Zahl der Haushalte mit mittlerem Einkommen schwindet. Übrigens weltweit. Mittelstand, das ist oft verbunden mit der permanenten Bedrohung, einen eigentlich zufriedenstellenden finanziellen und sozialen Status zu verlieren. Viele feste Weltbilder sind eingestürzt. Statt einem halbwegs gut zu überblickenden Wertekanon existieren viele verschiedene nebeneinander. Durch die Globalisierung erkennen die Menschen, dass sie nicht alleine auf der Welt sind und das andere Kulturen andere Verhaltensweisen entwickelt haben. Was die einen wohltuend als Vielfalt empfinden, ist den anderen nicht geheuer.
Beispiel Familie: Der Klassiker – Mann, Frau, Kinder – herrscht zwar immer noch vor, aber längst haben sich auch andere Formen durchgesetzt und sind – zumindest offiziell – akzeptiert.
Beispiel Drogen: Was früher große Ängste, aber auf junge Menschen eine ebenso große Faszination ausübte, ist heute quer durch die Gesellschaft – inoffiziell – akzeptiert. Die ganz „normale“Bankangestellte geht in der Mittagspause um die Ecke, um sich ihre Dosis zu holen, und der ganz „normale“Schüler dreht ohne Furcht vor Konsequenzen in aller Öffentlichkeit einen Joint. Aufputschund Beruhigungsmittel sind auch in höheren Schichten gang und gäbe. Viele Menschen glauben, dass es ohne nicht geht.
Beispiel Religion: Einst war der Minirock ein Skandal, weil er gegen christliche Werte verstieß, heute ist es das Kopftuch, wenn es nicht von einer Nonne oder einem Filmstar getragen wird. Tatsächlich sind die Kirchen aber nur an Tagen wie Weihnachten voll, der Mitgliederschwund in den westlichen Kirchen hält an. Andere Religionen wie Islam und Hinduismus werden aufgrund der großen globalen Reisemöglichkeiten und Migrationsbewegungen sichtbar, gleichzeitig gibt es viele Glaubensgemeinschaften, die mit den Weltreligionen bestenfalls verwandt sind. Aber auch in den Religionsgemeinschaften selbst sind die Unterschiede groß. Wie in anderen Lebensbereichen herrscht Vielfalt – und aus anderer Perspektive eine bedrohliche Unübersichtlichkeit. Es kommt immer irgendetwas und es kommt immer irgendetwas Neues. Der Glaube, dass die Welt, so wie sie als sicher und wohltuend erscheint, aufhören könnte, sich zu drehen, ist psychologisch verständlich, aber bar jeder menschlichen Erfahrung. Die Träume von einer friedlichen Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sind erloschen, der Nationalismus feiert seine Wiedererweckung, aber die Globalisierung wird sich allerhöchstens vorübergehend aufhalten lassen. Vor ein paar Tagen hielt einer der klügsten Digitalexperten Deutschlands, Sascha Lobo, eine spannende Rede in Bad Langensalza. Die Digitalisierung lässt sich nicht aufhalten, sagte er, es kommt darauf an, sie zu gestalten. Das gilt auch für die Globalisierung, die wiederum maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass sich Menschen auf Bestehendes zurückbesinnen und somit als konservativ erscheinen.
Rückbesinnung auf Vertrautes und Bewahrung von Werten schließen aber die Gestaltung der Zukunft keineswegs aus. Mike Mohring,
Vorsitzender CDU-Fraktion im Thüringer Landtag Dirk Adams, Fraktionschef der Grünen im Thüringer Landtag Björn Höcke, AfD-Landeschef und Fraktionsvorsitzender Die neue Runde beginnt am Montag mit Beiträgen der Schriftstellerin Daniela Danz und des Direktors der Stiftung Schloss Friedenstein, Martin Eberle.
Alle Beiträge finden Sie in einem InternetDossier der Thüringer Allgemeinen unter thueringer-allgemeine.de/konservativ