Lob der ausschweifenden Lust
Stefan Matuschek über europäische Romantik und die Rolle einer kleinen WG in Jena
Jena. Rechtzeitig vor den Romantiker-jubiläen – den 250. Geburtstagen Friedrich Schlegels und Novalis’ – hat der Jenaer Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek sich intensiv mit deren Epoche befasst. In seinem Buch „Der gedichtete Himmel“schreibt er luzide und allgemeinverständlich über die Kunst, metaphysische Luftschlösser zu bauen, und betrachtet sie grenzenlos, in einem europäischen Kontext. Wir sprachen mit ihm.
Weshalb messen Sie der Romantik so starke moderne Impulse bei? Die Modernität der Romantiker gilt für alle Fragen nach den letzten Gründen des Lebens und den großen, vereinigenden Sinnperspektiven. Wir sollten uns heute wie damals darüber einig sein, dass man sie selbst auf der Höhe der eigenen Vernunft nicht beantworten, sondern höchstens eine Vorstellung davon hegen kann. Und wenn man ein aufgeklärtes Verhältnis zur eigenen Einbildungskraft pflegt und weiß, wie diese eintritt, wo die Vernunft überfordert ist, gewinnt man eine liberale, mitunter sogar selbstironische Haltung zur Sinnsucherei. Das wäre auch eine wirksame Medizin gegen jeglichen Fundamentalismus.
Bedeutet das eine Abgrenzung der Romantik von der Philosophie der Aufklärung?
Nein, sie ergänzen einander. Nahezu alle, die im 18. und 19. Jahrhundert als Reflex auf die Aufklärung romantische Positionen entwickelt haben, verabschieden sich nicht von ihr, sondern wenden sich nur als aufgeklärt Denkende jenen Fragen zu, die sich rational nicht beantworten lassen.
Als eine Brutstätte dessen gilt die berühmt-berüchtigte Romantikerwohngemeinschaft in Jena...
Die Jenaer haben das zauberhafte Schlüsselwort dafür gefunden, was etwa zeitgleich mit dieser Art des Reflektierens auf die Lebenswirksamkeit der Einbildungskraft ebenso in anderen europäischen Literaturen beginnt: Sie haben der Romantik ihren Namen gegeben. Sie sind die führenden Köpfe in einem europaweiten literarischen Geschehen,
sie formulieren in ihrem kleinen Jenaer Kreis weiträumig Gültiges: Dass der Prosaroman die Gattung der Zukunft ist; dass die akademischen Regelpoetiken überkommen sind; dass Literatur durch die zügellos freie Kreativität von Individuen geprägt ist. Uns scheint das heute selbstverständlich; damals war es innovativ, ja revolutionär.
Aber sie lebten in ihrer WG auch so romantisch, wie sie schrieben!
Das gehört wohl dazu. Diese intellektuelle Clique lebt so provokant und freizügig, wie sie – zum Teil aphoristisch – formuliert. Vielleicht war das sogar in Jena weniger anstößig, als es in Berlin gewesen wäre.
Welche Impulse nehmen sie aus dem Ausland auf?
Es gibt immer wieder wechselseitige Einflüsse. Der Aufschwung des Prosaromans zum Beispiel kommt aus England – man denke an Laurence Sterne. Ebenso das Interesse an volkstümlicher Literatur. Märchen für Erwachsene kennen wir aus Frankreich, so dass deutsche Kunstmärchen jener Zeit an die dortigen Aufklärungsmärchen anknüpfen, etwa von Voltaire und Diderot. Es geht hin und her. Für den Austausch sorgen eben die, die wie Germaine de Staël reisen und schreiben.
Goethe in Weimar betrachtet die Jenaer Romantiker mit Skepsis und Ironie. Sind die Klassiker also ihre Opponenten?
Die Epochenbezeichnung der Klassik halte ich ja für das Resultat einer großen Begriffsverwirrung. Denn literarisch betrachtet sind Schiller und Goethe eher romantisch. Schillers „Jungfrau von Orleans“etwa trägt ganz zu recht den Untertitel „Eine romantische Tragödie“, und Goethes „Faust“ist doch eigentlich das Hauptwerk der Romantik.
Bitte begründen Sie das näher! Das Klassische ist das Musterhafte, und insofern ist das Romantische das deutsche Klassische. Begrifflich bildet das keinen Gegensatz; die Opposition beruht eher auf Generationsunterschieden, auf dem Zwist von Platzhirschen mit Newcomern.
Schauen wir bitte auch auf die Schattenseiten der Romantik, etwa die Verklärung des Waldes bis zum Klischee und auf die Wurzeln des deutschen Chauvinismus und Nationalismus!
Das Wald-klischee zähle ich noch zu den harmlosen Schattenseiten, das andere zu den schlimmen. Es wird dort gefährlich, wo die Produkte der eigenen Einbildungskraft nicht mehr als solche bewusst sind und stattdessen zu festen Überzeugungen erstarren. Schärfe bringen vor allem die antinapoleonischen Befreiungskriege ins Spiel, so dass romantische Selbstbesinnung ins Nationalistische umschlagen konnte.
Trotzdem: Können wir uns dem Romantischen völlig entziehen?
Nein. Denn es überfordert uns ja, uns ein ganz und gar empirisch-rationalistisches Weltbild zu machen. Das wichtigste Erbe der Romantik ist, sich selbst Rechenschaft darüber zu geben: Wir dürfen niemals vergessen, dass die ins Transzendente weisende Einbildungskraft etwas Selbstgemachtes ist. Nur dann tut das Romantische uns wohl.
Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik. Verlag C. H. Beck, 400 S., 28 Euro