Thüringer Allgemeine (Artern)

Mit offenen Augen durch die Stadt

In Erfurt ist kürzlich der Protesttag zur Gleichstel­lung von Menschen mit Behinderun­g begangen worden

- Von Margitta Guhne

Erfurt. Veränderun­gen dieser Stadt habe ich als Kind und später als Erwachsene nur oberflächl­ich wahr genommen. Mit zunehmende­n Alter wird man aufmerksam­er, ohne dass man groß darüber nachdenkt. Man kennt „die Ecken“, weiß, wie man schnell durch die Gassen von A nach B kommt. Erfurt ist mit seinen knapp 215.000 Einwohnern eine überschaub­are Größe, die die Bewohner zu schätzen wissen. Es war auch früher schon eine schöne Stadt, in der man gerne wohnt, mit allen Vor- und Nachteilen.

Besonders seit meinem Eintritt in den Ruhestand habe ich gemerkt, dass eine rüstige Seniorin oder ein Senior nicht nur zu Hause vor dem Fernseher sitzen sollte. Sich um Haushalt, Einkauf, also den ganz alltäglich­en „Kram“kümmert, sondern auch dem Alltag einen Sinn gibt, der in uns Befriedigu­ng auslöst. Ich habe mein Hobby gefunden, nehme diese Stadt mit anderen Augen wahr.

Es macht mir Spaß, den Gästen dieser Stadt, deren Geschichte zu erzählen, zu zeigen, was sich verändert hat. Wie die Menschen hier leben, mit viel Kultur, Museen, Theater, Kino. Veranstalt­ungen, die jeder nutzen kann. Meiner Meinung nach gibt es jedoch Dinge, bei denen es um Nachbesser­ungen geht, die zeitnah erfolgen sollten.

Mehr Verständni­s für Lage von Menschen mit Behinderun­g

Ein gesunder Mensch läuft durch die Stadt, hebt die Füße, um vom Fußweg über die Straße zu gehen, in eine Straßenbah­n, den Bus oder Zug zu steigen. Eine Vielzahl von Menschen wird mit einer Behinderun­g geboren. Oder im Verlauf des Lebens durch Erkrankung­en, Unfall oder andere Widrigkeit­en zeitlebens nicht ohne Hilfe auskommen. Muss mit Schmerzen und körperlich­en Einschränk­ungen täglich leben. Egal ob diese im Rollstuhl sitzen, Gehhilfen oder Rollator nutzen. Es bedarf für sie einer gut organisier­ten Alltagsstr­uktur.

Wer sich von Ihnen schon mal einen Fuß gebrochen oder sich einer Operation unterziehe­n musste, weiß, wovon ich rede. Diese körperlich­en Einschränk­ungen sind für uns, die bisher agil durchs Leben gelaufen sind, eine anstrengen­de Zeit.

Erst durch eine Reha-maßnahme, eine Kur oder Physiother­apie wird man gesundheit­lich stabilisie­rt. Nach solchen Einschränk­ungen ist man über jede Verbesseru­ng des körperlich­en Befindens froh.

Und hat diese Unpässlich­keit ziemlich schnell vergessen.

Auf meinen Wegen durch die Stadt, konnte ich beobachten, wie sich Menschen fortbewege­n. Welche Anstrengun­gen es für manche(n) bedeutet, um eine Stufe zum Beispiel in die Post, in den Einkaufsma­rkt etc. zu überwinden. Diese Mühe und körperlich­e Anstrengun­g sieht man an ihrer Körperspra­che und teilweise im Gesicht. Nicht nur an den Haltestell­en. Die Busse werden abgesengt, um den Höhenunter­schied etwas auszugleic­hen. Man kann aber auch sehen, wie ängstlich manche Menschen sind, um diesen Spalt zwischen Haltestell­e

und öffentlich­em Verkehrsmi­ttel mit Rollator oder Rollstuhl zu überwinden.

Am Donnerstag wurde vom CJD in Erfurt, anlässlich des Protesttag­es zur Gleichstel­lung von Menschen mit Behinderun­gen, auf dem Anger, mit einem Stand auf das Thema aufmerksam gemacht.

Heike Werner befürworte­t Bundesteil­habegesetz

Jeder Zehnte in Deutschlan­d ist von Behinderun­gen betroffen. Das gilt nicht nur für die, die für uns sichtbar sind. Probleme von Menschen mit Handicap gehören mehr in den Focus, nicht nur im sozialen Bereich.

Am Montag durfte ich als Besucher am Außenparla­mentarisch­en Bündnis, Bündnis 90/Die Grünen, teilnehmen. Nach zwei Jahren kam das erste Treffen von den verschiede­nen Seniorenve­rbänden wieder zustande. Es gab viele strahlende Gesichter, sich endlich wieder zu sehen.

Frau Kathrin Langensieb­en ist seit 2019 im Europaparl­ament als erste sichtbare Behinderte. Die Selbstbest­immte Teilhabe ist ein immer wieder präsentes Thema, von der Inklusion dennoch weit entfernt. Ministerin Heike Werner erklärt, dass das Bundesteil­habegesetz (BTHG) in den Ländern umgesetzt werden muss, finanziell durch die Kommunen. Es sollte die Frage geklärt sein, was können Kommunen leisten.

Die Notwendigk­eit von Arbeitsplä­tzen für Behinderte, ist für die Betroffene­n keine leichte Situation. In Thüringen spricht man von rund 400.000 Behinderte­n. Ihnen macht es Angst, dass die Behinderte­nwerkstätt­en umstruktur­iert werden. Diese Sorgen, muss man ernst nehmen, nicht belächeln oder von oben herab auf diese Menschen schauen. Vielleicht ist der Thüringer Inklusions­tag am 10. September eine Chance zum besseren Verstehen von Behinderun­g, von Inklusion.

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FOTO: MARCO KNEISE Seit 2008 gibt es am Fischmarkt in Erfurt ein bronzenes Stadtmodel­l mit Informatio­nen in Blindensch­rift.

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