Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Relativitä­tstheorien zum Zu-Hause-Sein

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Der Begriff kotzt ihn an, sagt der Schauspiel­er. Er meint: Heimat. Die Haltung wird bald einigermaß­en verständli­ch. Krunoslav Šebrek ist Schweizer, der einst Familienur­laube „zu Hause“erlebte: in Kroatien, das gerade eben noch ein Stück Jugoslawie­n war.

Derzeit ist Weimars Nationalth­eater seine künstleris­che Heimat. Ebenso die Dascha Trautweins, die Kasachstan verließ, als dieses gerade die Sowjetunio­n verließ. Auch die Nahuel Häflingers, in Argentinie­n als Sohn eines Schweizers und einer Spanierin geboren, die zuvor in Indonesien, im Sudan, in Ägypten und Holland lebten – und Kinder bekamen.

Zum Ensemble des Abends gehören außerdem Thomas Kramer aus dem Sauerland, Fridolin Sandmeyer aus dem Saarland, Simone Müller aus der Oberpfalz und Bernd Lange aus der Niederlaus­itz. Das sind auch so Schicksale. Als Gast aus Berlin dabei: Kollege Oscar Olivo aus New York, mit dem die Mutter schwanger ging, als die Familie aus der Dominikani­schen Republik ausreiste. Wo also ist einer dann zu Hause? Darauf geben sie sehr individuel­le Antworten in diesem ganz außergewöh­nlichen Heimataben­d, der ansonsten die tragische Familienge­schichte der Parondis tragikomis­ch verhandelt: Wirtschaft­sflüchtlin­ge aus den süditalien­ischen Olivenhain­en übersiedel­n ins nördliche Mailand, wo sie die Heimat vermissen.

Das ist eigentlich großes Kino: Viscontis dreistündi­ges opernhafte­s Epos „Rocco und seine Brüder“von 1960. Inzwischen ist’s ein Theatersto­ff: Berlin, Zürich, München, Hannover. Zuletzt Weimar, wo sie seit vergangene­m Oktober daraus zwei wunderbare Stunden machen. Dabei bleibt auch deren Herkunft gleichsam in der Schwebe: welches Genre also Heimat dieses Abends ist. Tragödie kommt vor und Komödie, Film und Filmparodi­e, Musiktheat­er (mit zwei Solisten, Damenchor und Staatskape­lle), Comic, Slapstick, Burleske, Revue.

Das war ein großer Erfolg: beim jubelnden Publikum der elften Vorstellun­g, zu dem ich gehörte – und das nicht mal das Parkett nennenswer­t besetzte. Kein Erfolg also an der Theaterkas­se, die zuvor schon nur mittelpräc­htige Verkäufe bilanziert­e (und übrigens auch keiner bei der Kritik, damals in dieser Zeitung).

„Rocco“ist eben eines jener berühmten Werke der Filmgeschi­chte, die niemand (mehr) kennt. Und was der Kulturbürg­er nicht kennt . . . Also machen sie das Dutzend noch voll, dann ist Schluss.

So bleibt wieder einmal nach geschlosse­nem Vorhang die Frage offen, wem Theater wie noch Heimat geben kann.

„Rocco und seine Brüder“letztmals am . April, um . Uhr, im DNT Weimar.

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Michael Helbing erlebte einen ganz außergewöh­nlichen Heimataben­d

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