Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)
Bittere Pillen
Von Februar an gilt eine neue EU-Richtlinie zur Medikamentensicherheit. Es hapert mit der Umsetzung. Engpässe drohen
Berlin. Krebsmittel, gestohlen aus Krankenhäusern in Griechenland oder Italien, Medikamente zur Behandlung von Multipler Sklerose und HIV mit dubioser Herkunft: Patienten in deutschen Apotheken können heutzutage nicht darauf vertrauen, dass überall auch Originalware drinsteckt – für kriminelle Banden ist der Handel mit gefälschten Medikamenten viel zu lukrativ. Das soll sich ändern. Von Februar 2019 an sollen in der EU nur noch verschreibungspflichtige Medikamente mit fälschungssicheren Verpackungen auf den Markt kommen – der Kunde kann dann direkt in der Apotheke die Echtheit der Arznei nachprüfen. Doch ob das in drei Monaten so weit kommt?
Viele Pharmakonzerne, Großhändler, Krankenhausapotheken und Apotheken unterschätzen offenbar die Umsetzung der neuen EU-Fälschungsschutzrichtlinie. Die EU-Kommission zweifelt – in einem Brandbrief droht sie den Beteiligten Strafen an. Experten sagen, dass es im schlimmsten Fall sogar zu Versorgungsengpässen mit Originalmedikamenten sowie zu Schließungen von Apotheken kommen kann.
Alle Medikamente – egal, wo auf der Welt für den europäischen Markt produziert – müssen vom 9. Februar an bestimmte Sicherheitsmerkmale tragen: einen Erstöffnungsschutz, ein Siegeletikett und einen individuell lesbaren Data-Matrix-Code zum Beispiel.
„All diese Merkmale zusammen sind absolut fälschungssicher. Und der Kunde kann in der Apotheke über einen Scan nachprüfen lassen, wo und wann sein Medikament hergestellt wurde“, sagt Reinhard Hoferichter, Vorstandssprecher von Securpharm. Der Verein soll die Fälschungsrichtlinie in Deutschland umsetzen. Die anderen EULänder sowie Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz haben ähnliche Gremien dafür.
Drei Monate vor dem Start sind nur knapp 400 von 3600 Pharmagroßhändlern, gut 12.000 von 19.500 Apotheken sowie etwas mehr als die Hälfte Gründe für die Verzögerungen könnten die Komplexität und die Kosten sein. Allein Bayer, der größte deutsche Arzneimittelkonzern, kalkuliert mit mehr als 120 Millionen Euro. In das Projekt sind weltweit mehr als 50 Mitarbeiter aus Technologie, Validierung, Rechtsabteilung, Länderkoordination und Qualitätskontrolle beteiligt. Produktion und Technik müssen umgestellt, die Verpackung geändert, Qualitätssicherung und -kontrolle angepasst werden – überall weltweit, wo für Europa produziert wird.
Experten rechnen damit, dass zum Start europaweit nicht alle an der Umstellung Beteiligten an das neue System angebunden sein werden. „An einigen Stellen können wichtige Medikamente sogar knapp werden“, verrät ein Insider der Branche. Und in Deutschland? Oliver Ewald, Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums, beruhigt: „Es liegen derzeit keine Hinweise vor, dass es zu Versorgungsengpässen kommen könnte.“
Bei der Europäischen Kommission in Brüssel heißt es: „Für den Fall, dass Pharmagroßhändler, Apotheken und Krankenhausapotheken bis zum 9. Februar kommenden Jahres nicht an das neue System angeschlossen sind, können sie nicht prüfen, ob die Medikamente echt sind, und dürfen diese auch nicht abgeben.“In einem Brandbrief mahnt sie die Beteiligten allerdings nachdrücklich, sich dringend um die Umsetzung der Richtlinie zu kümmern. „Nichtbefolgung ist eine Verletzung des Rechts. Dieses Vergehen wird mit einer Strafe geahndet“, heißt es in dem Schreiben.
In Deutschland kontrollieren die Gesundheitsministerien der Bundesländer die Umsetzung und sehen offenbar unterschiedlichen Handlungsbedarf: Bei der Hamburger Behörde für Gesundheit heißt es, die Verordnung verpflichte lediglich zur Überwachung des Datenspeicherund -abrufsystems. Die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit will die Apotheken dagegen genau kontrollieren.
Ein Experte aus der Gesundheitsbranche, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, reagiert auf die unterschiedlichen Aussagen der Behörden mit Unverständnis. „Seit 2010 ist bekannt, was da kommen wird. Und nun – kurz vor Startschuss – beginnt man langsam, sich mit den neuen Prüfkriterien zu befassen. Dabei ist es ganz einfach: Die Behörde prüft, ob alle Gesetze eingehalten werden. Und falls nicht, greifen Sanktionen – oder es droht gar der Lizenzentzug.“
Am Ende könnte der Patient der Dumme sein: Denn Apotheken dürfen vor dem 9. Februar 2019 erworbene Medikamente mit Verpackungen ohne die neuen Sicherheitsmerkmale gesetzeskonform weiter an den Kunden abgeben. Den Sicherheitscode zum Scannen haben sie nicht. Und die Medikamente sind meist fünf Jahre haltbar.