Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Der erhobene Zeigefinger
aum sitze ich im Auto, starte – und schon piepst ein Signalton, da ich noch nicht angeschnallt bin. Ich fahre auf eine Ampel zu. Sie schaltet bei 500 Meter Abstand auf Rot, um ein paar Sekunden später wieder auf Grün zu wechseln – mit Verkehrsflussregelung hat das wohl nichts zu tun. Ist das vielleicht ein Mittel gegen schnelle Fahrer? Nur zwei Beispiele, wie ich im Alltag pädagogisiert werde. Es gibt ihn – den erhobenen technischen Zeigefinger (vom Smartphone bis zum Rauchmelder), der einem Kerzen und Weihrauch verbietet.
Mich beschleicht bei all diesen recht- und gut gemeinten Aktionen das Gefühl, dass um mich herum eine risikofreie Welt aufgebaut werden soll, frei nach dem altelterlichen Motto: Wir meinen es ja nur gut mit dir. Und mit ein bisschen Überwachung gelingt es, das Böse abzuwenden und das Paradies zu schaffen. Nein – diese Welt hat einen Riss, die Planken der Arche sind dünn, und das Gute und Böse ist immer und überall, selbst Sicherheitsgurte können töten. Wer dieses Faktum allerdings annimmt, schaut anders in die Welt. Er wird anerkennen, dass es unverschuldetes Unglück gibt wie Tumor und Erdbeben – da hilft kein Rauchmelder. Unsere Welt bleibt schön und verletzlich zugleich. Er wird auch anerkennen, dass es eigene Grenzen und Schuld gibt, die nicht zwingend, aber realistisch sind. Da kommt unsere Freiheit an ihr Ende. Und wer dann seine eigene Begrenztheit merkt, der wird allerdings ein bisschen vorsichtiger beim Urteilen über andere sein. Kann es sein, dass die Unbarmherzigkeit im Umgang mit gescheiterten Politikern und anderen Verantwortlichen seinen Grund in einem idealisierenden Menschenbild hat, das beim Scheitern doppelte Enttäuschung hervorbringt – die Enttäuschung über zu hohe Erwartungen und dann über den konkreten Fall? Wir sind immer zugleich Helden und Sünder. Alle.
Aus dieser Perspektive wünsche ich jedem eine selbstkritische Gewissenserforschung und ein gesundes Selbstbewusstsein. Ehrliche Beichte und ein gesundes Selbstvertrauen gehören zusammen. Erst dann kann aus Barmherzigkeit heraus der ein oder andere Tipp Sinn machen, ist Alltagshilfe und kein Moralisieren. Was einem doch alles an einer rotgeschalteten Ampel so einfällt…