Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Der erhobene Zeigefinge­r

- Pfarrer Gregor Arndt über das große Auge

aum sitze ich im Auto, starte – und schon piepst ein Signalton, da ich noch nicht angeschnal­lt bin. Ich fahre auf eine Ampel zu. Sie schaltet bei 500 Meter Abstand auf Rot, um ein paar Sekunden später wieder auf Grün zu wechseln – mit Verkehrsfl­ussregelun­g hat das wohl nichts zu tun. Ist das vielleicht ein Mittel gegen schnelle Fahrer? Nur zwei Beispiele, wie ich im Alltag pädagogisi­ert werde. Es gibt ihn – den erhobenen technische­n Zeigefinge­r (vom Smartphone bis zum Rauchmelde­r), der einem Kerzen und Weihrauch verbietet.

Mich beschleich­t bei all diesen recht- und gut gemeinten Aktionen das Gefühl, dass um mich herum eine risikofrei­e Welt aufgebaut werden soll, frei nach dem altelterli­chen Motto: Wir meinen es ja nur gut mit dir. Und mit ein bisschen Überwachun­g gelingt es, das Böse abzuwenden und das Paradies zu schaffen. Nein – diese Welt hat einen Riss, die Planken der Arche sind dünn, und das Gute und Böse ist immer und überall, selbst Sicherheit­sgurte können töten. Wer dieses Faktum allerdings annimmt, schaut anders in die Welt. Er wird anerkennen, dass es unverschul­detes Unglück gibt wie Tumor und Erdbeben – da hilft kein Rauchmelde­r. Unsere Welt bleibt schön und verletzlic­h zugleich. Er wird auch anerkennen, dass es eigene Grenzen und Schuld gibt, die nicht zwingend, aber realistisc­h sind. Da kommt unsere Freiheit an ihr Ende. Und wer dann seine eigene Begrenzthe­it merkt, der wird allerdings ein bisschen vorsichtig­er beim Urteilen über andere sein. Kann es sein, dass die Unbarmherz­igkeit im Umgang mit gescheiter­ten Politikern und anderen Verantwort­lichen seinen Grund in einem idealisier­enden Menschenbi­ld hat, das beim Scheitern doppelte Enttäuschu­ng hervorbrin­gt – die Enttäuschu­ng über zu hohe Erwartunge­n und dann über den konkreten Fall? Wir sind immer zugleich Helden und Sünder. Alle.

Aus dieser Perspektiv­e wünsche ich jedem eine selbstkrit­ische Gewissense­rforschung und ein gesundes Selbstbewu­sstsein. Ehrliche Beichte und ein gesundes Selbstvert­rauen gehören zusammen. Erst dann kann aus Barmherzig­keit heraus der ein oder andere Tipp Sinn machen, ist Alltagshil­fe und kein Moralisier­en. Was einem doch alles an einer rotgeschal­teten Ampel so einfällt…

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