Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Blues- und Beettag
Der Gitarrist Jürgen Kerth mag es an seinem Lieblingsplatz vor allen Dingen wild. Selten kommen in seinem Schrebergarten Rasenmäher und Heckenschere zum Einsatz
Es gibt Menschen, die können mit ihrer Musik die Welt einfangen. Große Gefühle und kleine Sorgen verschmelzen zu einer Melodie, Textzeilen werden für die Ewigkeit konserviert.
Jürgen Kerth gehört zu dieser besonderen Spezies. Seine Sprache ist die Musik. Der Erfurter hat unzählige Songs geschrieben. Er hat große Riffs kreiert und unvergessene Harmonien, aus seiner Feder stammen zarte Instrumentalstücke und robuste Blueshymnen. „Die Musik hat mein ganzes Leben bestimmt — Karriere, Ruhm und schnelles Geld haben mich dabei nie wirklich interessiert“, erzählt Kerth. Er hat gelebt, mit allen Risiken und Nebenwirkungen, Frauengeschichten inklusive.
68 Jahre ist er mittlerweile alt — sein Haar ist immer noch lang und strähnig, so wie man es von einem Musiker erwartet. Jürgen Kerth trägt ein abgewetztes Jacket, bequeme Sportschuhe und die Hose wird mit ein paar Trägern gehalten. Es fällt ihm sichtlich schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Im Minutentakt springt er auf, gestikuliert, sucht nach alten Fotos — und hangelt sich dabei von einem zum anderen Thema. Immer wieder fallen ihm neue Namen von langjährigen Wegbegleitern ein, er erzählt Schnurren aus seinem verrückten Musikerleben.
Einer wie Kerth mag es wild, nicht nur auf der Bühne. Auch in seinem Schrebergarten in der Saline. Dort, am Rande von Erfurt, wuchert auf den Beeten das Grün. Löwenzahn, Minze und
Erfurt.
Schöllkraut, Kerth schwört auf die Kraft der Kräuter. Heckenschere und Rasenmäher kommen nur selten zum Einsatz. Ein altes Sofa ruht im Schatten eines Baumes, auf dem verwitterten Tisch ist Platz für Kaffeetassen und den Aschenbecher. Bei Kerth gibt es nur wenige Momente, an denen die Zigarre nicht vor sich hin stinkert. „Sie ist mein ständiger Begleiter, seit ich 17 Jahre alt bin — ich rauche aber nur Backe“, verrät er. Ein Verstärker steht in Reichweite, selbstverständlich. Ebenso wie seine Gitarre der Marke Migma, die er im Jahr 1966 kaufte und mit der er vor langer Zeit zur Legende wurde. Dabei sollte Jürgen Kerth eigentlich auf Medaillenjagd gehen. Die Lehrer der Sportschule (KJS) sahen ihn als hoffnungsvollen Nachwuchskader im Geräteturnen. Bis ihn eines Tages die Musik packte — und nicht mehr losließ. „Von diesem Moment an gab es nur noch einen Weg.“Gerade einmal 14 Jahre zählt Jürgen Kerth damals, immer an seiner Seite: Heinz-jürgen Gottschalk, der später als Komponist Ddr-rock-geschichte schrieb. Kerth lernte den ersten Akkord — ein ungelenkes „E“, irgendwann folgten schwierige Barrégriffe. Die beiden Jungs sangen häufig in der Turnhalle, „weil es dort so einen schönen Hall gab“. Ihre Idole: Chuck Berry, Neil Sedaka.
Aufgewachsen ist Jürgen Kerth bei seiner Oma Klara in der Erfurter Stollbergstraße. „Dort musste ich anfangs immer auf der Ritze schlafen“, erzählt Kerth. In der Küche dudelte ununterbrochen das Radio, klassische Musik, Operetten, aber auch Schlager. Es wurde viel geraucht, daran erinnert sich Kerth noch heute, regelmäßig zog es die Familie in den nahen Garten. „Daher kommt wahrscheinlich auch mein Liebe zu all dem Grünzeug.“
Die Familiengeschichte ist voll von Irrungen und Wirrungen und Liebeleien, von denen Jürgen Kerth nur zu gerne erzählt. Vielleicht gibt es ja wirklich ein Verwandtschaftsverhältnis zum Sondershäuser Fürstenhaus, verbürgt ist auf jeden Fall, dass sein Großvater einst Piano zu den Stummfilmen im Erfurter Alhambra spielte. Die große Liebe seiner Mutter Senta blieb derweilen im Krieg, sodass der bekannte Erfurter Gärtnereibesitzer Friedrich Burau sein Vater wurde. Vielleicht. Weil auch sein Tod so plötzlich kam, blieb es beim Nachnamen – Kerth.
Und auch das Leben des jungen Mannes blieb holperig. Die erste von ihm mitbegründete Band „Spotlights“musste sich auf Druck der Behörden umbenennen — und wurde zwei Jahre später, 1966, doch verboten. Den folgenden musikalischen Projekten erging es ähnlich, „Team 65“, „Joker“und „Unisono“passten eben nicht in die politische Musiklandschaft. Angeblich weil Musiker und Fans zu aufrührerisch waren. Die wilden Konzerte im Tivoli, im Presseclub oder im Greußener Schwimmbad waren der Ddrobrigkeit ein Dorn im Auge. Beat- und Bluesmusik waren ja bekanntlich die Waffen des Klassenfeindes.
Erst als Amiga die erste Platte der Kerth-band produzierte und die Songs immer häufiger im Radio zu hören waren, ließ man den Musiker gewähren. Nicht unwesentlichen Anteil daran hatte seine Frau Barbara, die im Jahr 1978 mit einer selbst aufgenommenen Musikkassette nach Berlin gefahren war. Dort überzeugte sie die Verantwortlichen von der Qualität der Songs. Dass bei diesem Zusammentreffen reichlich Likör floss, ist noch heute eine gern erzählte Geschichte am Kerthschen Familientisch. Genau wie der Fakt, dass der Erfurter zweimal zum „Besten Gitarristen der DDR“gewählt wurde.
Das Leben aber nimmt auf niemanden Rücksicht. Im Jahr 1993 stirb Jürgen Kerths Sohn Christoph. Er nimmt sich das Leben. Zu diesem Zeitpunkt hat der 17-Jährige bereits drei Jahre mit seinem Vater auf der Bühne gestanden. „Er war ein genialer Schlagzeuger – heute denke ich aber manchmal, dass es vielleicht alles ein bisschen zu früh für ihn war.“Keine Zeit der Welt kann eine solche Wunde heilen. Die Musik hat die unendliche Trauer mitunter gelindert.
Im kleinen Garten von Jürgen Kerth dreht sich die Welt mittlerweile etwas langsamer. „Das Auftrittsfeeling ist mir auch heute noch wichtig – aber mehr als vier Konzerte pro Monat sind nicht drin “, erzählt Kerth. Sohn Stefan, ein begnadeter Bassist, ist dabei immer an seiner Seite. Um die Vertragsangelegenheiten und die mittagliche Hausmannskost kümmert sich seine Frau Barbara.
Vor einiger Zeit hat sich Clueso zwei Nummern vom alten Kerth geliehen: „Nachts unterwegs“und „Komm herein“. „Das war eine große Ehre für mich – er hat das Erfolgsgen“, erzählt Kerth zum Abschied. Noch ein letzter Zug an der Zigarre – und dann verschwindet die Blueslegende in ihrem Gartenhäuschen, das so wunderbar umwuchert wird von Büschen und Sträuchern.
Seine Frau Barbara kocht Hausmannskost