Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Blues- und Beettag

Der Gitarrist Jürgen Kerth mag es an seinem Lieblingsp­latz vor allen Dingen wild. Selten kommen in seinem Schreberga­rten Rasenmäher und Heckensche­re zum Einsatz

- Von Peter Rathay

Es gibt Menschen, die können mit ihrer Musik die Welt einfangen. Große Gefühle und kleine Sorgen verschmelz­en zu einer Melodie, Textzeilen werden für die Ewigkeit konservier­t.

Jürgen Kerth gehört zu dieser besonderen Spezies. Seine Sprache ist die Musik. Der Erfurter hat unzählige Songs geschriebe­n. Er hat große Riffs kreiert und unvergesse­ne Harmonien, aus seiner Feder stammen zarte Instrument­alstücke und robuste Blueshymne­n. „Die Musik hat mein ganzes Leben bestimmt — Karriere, Ruhm und schnelles Geld haben mich dabei nie wirklich interessie­rt“, erzählt Kerth. Er hat gelebt, mit allen Risiken und Nebenwirku­ngen, Frauengesc­hichten inklusive.

68 Jahre ist er mittlerwei­le alt — sein Haar ist immer noch lang und strähnig, so wie man es von einem Musiker erwartet. Jürgen Kerth trägt ein abgewetzte­s Jacket, bequeme Sportschuh­e und die Hose wird mit ein paar Trägern gehalten. Es fällt ihm sichtlich schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Im Minutentak­t springt er auf, gestikulie­rt, sucht nach alten Fotos — und hangelt sich dabei von einem zum anderen Thema. Immer wieder fallen ihm neue Namen von langjährig­en Wegbegleit­ern ein, er erzählt Schnurren aus seinem verrückten Musikerleb­en.

Einer wie Kerth mag es wild, nicht nur auf der Bühne. Auch in seinem Schreberga­rten in der Saline. Dort, am Rande von Erfurt, wuchert auf den Beeten das Grün. Löwenzahn, Minze und

Erfurt.

Schöllkrau­t, Kerth schwört auf die Kraft der Kräuter. Heckensche­re und Rasenmäher kommen nur selten zum Einsatz. Ein altes Sofa ruht im Schatten eines Baumes, auf dem verwittert­en Tisch ist Platz für Kaffeetass­en und den Aschenbech­er. Bei Kerth gibt es nur wenige Momente, an denen die Zigarre nicht vor sich hin stinkert. „Sie ist mein ständiger Begleiter, seit ich 17 Jahre alt bin — ich rauche aber nur Backe“, verrät er. Ein Verstärker steht in Reichweite, selbstvers­tändlich. Ebenso wie seine Gitarre der Marke Migma, die er im Jahr 1966 kaufte und mit der er vor langer Zeit zur Legende wurde. Dabei sollte Jürgen Kerth eigentlich auf Medaillenj­agd gehen. Die Lehrer der Sportschul­e (KJS) sahen ihn als hoffnungsv­ollen Nachwuchsk­ader im Geräteturn­en. Bis ihn eines Tages die Musik packte — und nicht mehr losließ. „Von diesem Moment an gab es nur noch einen Weg.“Gerade einmal 14 Jahre zählt Jürgen Kerth damals, immer an seiner Seite: Heinz-jürgen Gottschalk, der später als Komponist Ddr-rock-geschichte schrieb. Kerth lernte den ersten Akkord — ein ungelenkes „E“, irgendwann folgten schwierige Barrégriff­e. Die beiden Jungs sangen häufig in der Turnhalle, „weil es dort so einen schönen Hall gab“. Ihre Idole: Chuck Berry, Neil Sedaka.

Aufgewachs­en ist Jürgen Kerth bei seiner Oma Klara in der Erfurter Stollbergs­traße. „Dort musste ich anfangs immer auf der Ritze schlafen“, erzählt Kerth. In der Küche dudelte ununterbro­chen das Radio, klassische Musik, Operetten, aber auch Schlager. Es wurde viel geraucht, daran erinnert sich Kerth noch heute, regelmäßig zog es die Familie in den nahen Garten. „Daher kommt wahrschein­lich auch mein Liebe zu all dem Grünzeug.“

Die Familienge­schichte ist voll von Irrungen und Wirrungen und Liebeleien, von denen Jürgen Kerth nur zu gerne erzählt. Vielleicht gibt es ja wirklich ein Verwandtsc­haftsverhä­ltnis zum Sondershäu­ser Fürstenhau­s, verbürgt ist auf jeden Fall, dass sein Großvater einst Piano zu den Stummfilme­n im Erfurter Alhambra spielte. Die große Liebe seiner Mutter Senta blieb derweilen im Krieg, sodass der bekannte Erfurter Gärtnereib­esitzer Friedrich Burau sein Vater wurde. Vielleicht. Weil auch sein Tod so plötzlich kam, blieb es beim Nachnamen – Kerth.

Und auch das Leben des jungen Mannes blieb holperig. Die erste von ihm mitbegründ­ete Band „Spotlights“musste sich auf Druck der Behörden umbenennen — und wurde zwei Jahre später, 1966, doch verboten. Den folgenden musikalisc­hen Projekten erging es ähnlich, „Team 65“, „Joker“und „Unisono“passten eben nicht in die politische Musiklands­chaft. Angeblich weil Musiker und Fans zu aufrühreri­sch waren. Die wilden Konzerte im Tivoli, im Presseclub oder im Greußener Schwimmbad waren der Ddrobrigke­it ein Dorn im Auge. Beat- und Bluesmusik waren ja bekanntlic­h die Waffen des Klassenfei­ndes.

Erst als Amiga die erste Platte der Kerth-band produziert­e und die Songs immer häufiger im Radio zu hören waren, ließ man den Musiker gewähren. Nicht unwesentli­chen Anteil daran hatte seine Frau Barbara, die im Jahr 1978 mit einer selbst aufgenomme­nen Musikkasse­tte nach Berlin gefahren war. Dort überzeugte sie die Verantwort­lichen von der Qualität der Songs. Dass bei diesem Zusammentr­effen reichlich Likör floss, ist noch heute eine gern erzählte Geschichte am Kerthschen Familienti­sch. Genau wie der Fakt, dass der Erfurter zweimal zum „Besten Gitarriste­n der DDR“gewählt wurde.

Das Leben aber nimmt auf niemanden Rücksicht. Im Jahr 1993 stirb Jürgen Kerths Sohn Christoph. Er nimmt sich das Leben. Zu diesem Zeitpunkt hat der 17-Jährige bereits drei Jahre mit seinem Vater auf der Bühne gestanden. „Er war ein genialer Schlagzeug­er – heute denke ich aber manchmal, dass es vielleicht alles ein bisschen zu früh für ihn war.“Keine Zeit der Welt kann eine solche Wunde heilen. Die Musik hat die unendliche Trauer mitunter gelindert.

Im kleinen Garten von Jürgen Kerth dreht sich die Welt mittlerwei­le etwas langsamer. „Das Auftrittsf­eeling ist mir auch heute noch wichtig – aber mehr als vier Konzerte pro Monat sind nicht drin “, erzählt Kerth. Sohn Stefan, ein begnadeter Bassist, ist dabei immer an seiner Seite. Um die Vertragsan­gelegenhei­ten und die mittaglich­e Hausmannsk­ost kümmert sich seine Frau Barbara.

Vor einiger Zeit hat sich Clueso zwei Nummern vom alten Kerth geliehen: „Nachts unterwegs“und „Komm herein“. „Das war eine große Ehre für mich – er hat das Erfolgsgen“, erzählt Kerth zum Abschied. Noch ein letzter Zug an der Zigarre – und dann verschwind­et die Blueslegen­de in ihrem Gartenhäus­chen, das so wunderbar umwuchert wird von Büschen und Sträuchern.

Seine Frau Barbara kocht Hausmannsk­ost

 ??  ?? Für Bluesmusik­er Jürgen Kerth gehören Gitarre und Gartenhaus zusammen, hier kann er ungestört die Saiten seiner alten Migma klingen lassen. Fotos: Sascha Fromm
Für Bluesmusik­er Jürgen Kerth gehören Gitarre und Gartenhaus zusammen, hier kann er ungestört die Saiten seiner alten Migma klingen lassen. Fotos: Sascha Fromm

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