Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

28 Minuten im ICE

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Kürzlich im ICE, im 6er-abteil. Neben mir eine ältere Dame, die irgendwann ihre Jacke sorgfältig über die Beine legt. Als wäre es kalt. Die Frau werkelt ein wenig herum und zieht dann, ich sehe es deutlich aus den Augenwinke­ln, eine Unterschen­kelprothes­e unter ihrem Hosenbein hervor, stellt sie samt Jacke auf die kleine Ablage zwischen uns. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, und auch die beiden jungen Leute gegenüber zeigen keinerlei Reaktion.

Ich kenne das aus meiner Kindheit: Ein Onkel, kriegsverl­etzt, nahm abends sein „Bein“ab, wenn es drückte, und stellte es in die Ecke. Und nun diese Frau hier neben mir im Zug, sicher über siebzig, entledigt sich, als wäre es das Selbstvers­tändlichst­e der Welt, ihrer Prothese. So wie andere mal eben ihre Winterstie­fel ausziehen. Ich finde das mutig und bewundere diese Souveränit­ät.

Wir kommen ins Gespräch: Fünfzig Jahre lebt sie nun in Namibia, folgt damals als junge Ärztin ihrer großen Liebe. Arbeitet zeitlebens als Buschdokto­r. Der Hubschraub­er bringt sie in die entlegenst­en Orte. Ruck, zuck wird ein Zelt aufgestell­t als „fliegende Praxis“für Impfungen, Untersuchu­ngen, Behandlung­en, kleine Operatione­n. Viele Kinder mit Augenprobl­emen, die auf dem Rücken der Mütter getragen werden. Oft kommen dann noch Atemwegsbe­schwerden dazu, weil sie beim Entfachen des Feuers immer wieder Rauch einatmen. Oder die Aids-behandlung­en, die nicht erfolgreic­h sind, weil Menschen nicht gewohnt sind täglich Medizin einzunehme­n.

Dann dieser Unfall mit dem Hubschraub­er, bei dem sie ihr Bein verliert. Eineinhalb Jahre ist das her. Und nun zum ersten Mal wieder in Deutschlan­d, auf dem Weg zu ihrem Bruder. Seinen 80. Geburtstag werden sie feiern, und dass sie überlebt hat.

28 Minuten im ICE.

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Rosemarie Kaiser über eine Begegnung im Zug

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