Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Eine 44-Stunden-reise quer durch Russland
4500 Kilometer, fünf Städte, vier Flüge und 15 Stunden im Nachtzug für zwei Spiele. So war der Plan. Doch im Land des Wm-gastgebers gehen Pläne nur selten auf
Die 44-Stunden-reise quer durch Russland, die völlig anders enden wird als zu Beginn erwartet, startet in Mosambik. Zumindest fast. Auf der Suche nach einem Schaffner, der am Fernbahnhof Sotschi die russischsprachige Anzeigentafel übersetzt, steht um kurz nach Mitternacht plötzlich Irina in der Wartehalle.
In gebrochenem Englisch fragt die Beamtin, ob man nicht auch eine andere Sprache könne. Spanisch oder Portugiesisch? Überrascht einigt man sich auf Portugiesisch und so erklärt die Russin im fließenden „português“, dass man in zehn Minuten zu Bahnsteig Nummer eins gehen müsse. Auf Nachfrage erklärt die 55 Jahre alte Bahnmitarbeiterin, dass sie in Mosambik studiert habe, deswegen so gut Portugiesisch könne. „Boa viagem“, sagt die hilfsbereite Russin auf Portugiesisch. Gute Reise.
Sotschi.
Die gute Reise ist seit Monaten geplant. 4500 Kilometer durch fünf Städte mit vier Flügen und einem Nachtzug für gerade einmal zwei Spiele – so zumindest die Theorie.
In der Praxis soll es anders kommen. Doch davon weiß nur noch niemand etwas, als um Punkt 0.30 Uhr der Nachtzug in Sotschi mit einer ganzen Horde von Brasilianern bestiegen wird. Auch Paolo und Felipe sind dabei. Beide aus São Paulo, beide voller Vorfreude auf das Spiel der Seleção.
Doch zunächst einmal: Ankunft in Rostow am Don nach 15 Stunden Fahrt. Abschied von Wladimir (ab Sotschi im gleichen Abteil) und Alexander (in Krasnodar dazugestiegen). Die beiden Russen fahren weiter bis nach Moskau. Beim Spiel in Rostow am Don haben sie nicht sonderlich viel verpasst: Brasilien spielt 20 Minuten wie der kommende Weltmeister – und dann 70 Minuten lang alles andere als weltmeisterlich. 1:1 nach 95 Minuten. Paolo und Felipe dürften enttäuscht sein. Das sind auch die brasilianischen Nationalspieler. Erst weit nach Mitternacht dribbelt Neymar durch den Journalistenparcours im Bauch des Stadions. Als er schließlich in den Mannschaftsbus steigt, ist es 1 Uhr nachts.
Um diese Uhrzeit selbst einen Shuttlebus zum Flughafen zu finden, fällt schwer. Doch das Schöne ist, dass fast immer bei der WM auf die Verzweiflung die Verzückung folgt. Verzückung über Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit. In diesem Fall sind das Timofei (Hilfsbereitschaft) und Daria (Herzlichkeit). Die beiden jungen Russen, 20 und 21 Jahre alt, wissen zwar auch nicht den Weg, entscheiden sich aber um 1.30 Uhr (!) mitzukommen, bis der richtige Flughafenbus gefunden ist.
Um 2 Uhr fängt Timofei ein Gespräch über die Ukraine-krise an. Ob er fragen dürfte, wie man den Konflikt in Deutschland sehe. Und wie man im Westen über Präsident Putin denke.. Timofei, der gerade von seinem dreijährigen Militärdienst zurückgekommen ist, hört aufmerksam zu, erklärt seinen Standpunkt („Die Leute auf der Krim fühlen sich nun mal russisch“), akzeptiert aber genauso andere Sichtweisen.
Um 2.30 Uhr ist ein Bus gefunden. „Good bye, my friend“, sagt Timofei. Um 4 Uhr morgens geht es weiter nach St. Petersburg. Dort umsteigen, neu einchecken und direkt wieder weiter nach Nischni Nowgorod. So der Plan. Doch in Russland ist das mit den Plänen so eine Sache. Als man pünktlich am Abfluggate D21 ankommt, ist kein Mitarbeiter der Rusline-airline da. Diesmal fehlen Timofei und Daria. Denn als der Gruppe klar wird, dass es einen (nur auf Russisch angesagten) Gatewechsel gegeben hat, ist es zu spät. Die Maschine 7R235 steht zwar noch am Gate D4, doch die Rusline-mitarbeiterin mit der Aura einer Gefängnisaufseherin lässt sich nicht erweichen: „Gate closed. Go!“
Das Ende vom Lied ist das modifizierte Ende von der angedachten Drei-nächte-reise. Statt nach Nischni Nowgorod, wo Schweden gegen Südkorea 1:0 gewinnt und von wo aus man nachts über Moskau zurück nach Sotschi fliegen wollte, geht es am Nachmittag direkt nach Sotschi. Nach der kalten Dusche am Gate D4 in St. Petersburg folgt um 20 Uhr im Hotel in Sotschi endlich die erste warme Dusche seit drei Tagen. Was für eine Wohltat.
„Alle Dinge kannst du nicht machen“, lautet ein russisches Sprichwort. Da würden wohl nur Timofei und Daria energisch widersprechen.
Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit